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Archiv verlassen und diese Seite im Standarddesign anzeigen : Der verfluchte Ottried und seine Töchter



Vinni
28.02.2003, 14:30
Bis jetzt hab ich immer nur kommentiert oder kritisiert. - Wird also Zeit, daß ich mich auch mal traue, meine Sachen zu posten. Ich fang am besten mal ganz harmlos an... :rolleyes:



Es war einmal vor langer Zeit, als das Wünschen noch half. Da lebte auf der Insel Oridia ein reicher und mächtiger Mann. Sein Name war Ottried, und er hatte ein großes Anwesen in der Nähe der Mündung des Gyraha. Ottried war ein großer und starker Mann, doch sein Herz war hart und wurde nur von der Gier nach Reichtümern getrieben. Er lebte in seinem Haus zusammen mit seinen vierzehn Töchtern, die ihm seine verschiedenen Frauen geboren hatten. Diese Töchter waren alle hochgewachsen und dunkelhaarig wie ihr Vater. Aber sie waren anmutig von Gestalt und wunderschön. Dennoch hatten sie auch das hochfahrende und stolze Wesen ihres Vaters geerbt.
Diese holden Mädchen hatten nun die Gewohnheit in der Nähe des väterlichen Hauses im Wasser des Gyraha zu baden. Keines Mannes Auge durfte beobachten, wenn die jungen Frauen nackt in die klaren Fluten des Flusses stiegen. Und doch wurden sie gesehen.
Eines Tages war Ottried auf der Jagd. Jedoch war ihm das Glück nicht hold. Kein einziges Wild ließ sich entdecken, so dass der große Mann gereizt seine Treiber schalt. Dann gegen Mittag trat jedoch plötzlich ein prächtiger Hirsch vor die Jagdgesellschaft. Sein Fell schimmerte wie Silber und das Geweih glitzerte in der Sonne wie reines Gold. Wie von einem Fieber ergriffen setzte Ottried dem prachtvollen Tier nach. Es entkam seiner Armbrust, konnte Ottried mit seinem schnellen Pferd jedoch nicht entfliehen. Lange verfolgte Ottried den schönen Hirsch. Längst war er allein, da seine Begleiter ihnen nicht hatten folgen können. Schließlich erreichte der Hirsch das Ufer des Gyraha. Er blieb stehen und blickte sich zu Ottried um. Dieser zögerte bei dem Blick aus blaugrünen Augen, hob aber dennoch die Armbrust. Da trat der Hirsch mit seinen schlanken Beinen in das klare Wasser des Flusses und verschwand vor Ottrieds Augen.
Ungläubig stieg Ottried vom Pferd. Von dem Hirsch war nichts mehr zu sehen, außer der Spur, die im Sand des Flusses endete.
"Ottried!" sprach plötzlich eine seltsame Stimme.
Der große Mann fuhr herum und entdeckte im Wasser des Gyraha einen Mann. Er war alt, silbergraues Haar umrahmte sein faltenzerfurchtes Gesicht, und ein langer Bart fiel auf seine Brust. Der Alte stand bis zur Hüfte im Wasser. Er war in ein geschupptes glänzendes Gewand gehüllt, und seine Haut hatte einen bläulichen Schimmer.
Ottried musterte den Mann misstrauisch. "Wer bist du? Und was willst du?"
Der Alte erwiderte Ottrieds kalten Blick aus seltsamen hellgrünen Augen. Schließlich neigte er grüßend den Kopf. "Ich bin der Flusskönig des Gyraha", stellte er sich vor.
Ottried zog unwillig die Brauen zusammen. Er kannte die Märchen von Wassermännern und Seejungfrauen - und auch die vom Flusskönig. Aber dass er sich nun ausgerechnet in seinem Gyraha zeigen musste!
"Und was willst du von mir?" Ottrieds Herz schlug plötzlich schneller. Er hatte im Haar des alten Mannes eine kostbare Krone von Gold und Edelsteinen entdeckt. Und auch in dem silbernen Bart und den glänzenden Kleidern waren große Perlen eingeflochten.
"Du hast vierzehn schöne Töchter", erklärte nun der Flusskönig. "Und ich habe vierzehn Söhne, die deine Töchter lieben und sie zu ihren Frauen nehmen möchten. - Ich bitte dich daher von Vater zu Vater um das Einverständnis für diese Verbindungen."
Ottried begann zu überlegen. Seine schönen Töchter waren ein teurer Preis. Sie sollten reiche Männer heiraten und nicht sagenhafte Wassergestalten.
Der Flusskönig schien diesen Gedanken zu erraten. "Es soll dein Schaden nicht sein", bemerkte er schließlich. "Ich kann dafür sorgen, dass deine Fischgründe reichen Ertrag bringen. Und ich biete dir viele Schätze. Perlen und Bernstein, und das Gold versunkener Schiffe. Das Glück meiner Söhne ist diesen Preis wert."
Ottrieds Augen glitzerten gierig, doch noch wollte er sich auf den Handel nicht einlassen. "Wie kann ich dir meine Töchter geben", fragte er. "Wie sollen sie in deinem Reich überleben. Es sind doch Menschenfrauen. Und ich möchte mich nicht von ihrer Schönheit trennen müssen."
Der Flusskönig wiegte nachdenklich den Kopf. "Durch den Vollzug der Ehen unserer Kinder sind sie in der Lage in beiden Reichen gleichermaßen zu überleben, in meinem Fluss so wie in der Menschenwelt. Die Entscheidung sollte bei den Kindern liegen."
"Und doch soll ich dir all meine Töchter geben?" Ottried machte ein trauriges Gesicht. "Dabei sind die jüngsten noch nicht in dem Alter, in dem man sie einem Manne gibt!"
"Dann sollen die Vermählungen nacheinander stattfinden. Wir Wasserwesen können nur zum vollen Mond unser Element für längere Zeit verlassen. So soll also zu jedem Vollmond eine Hochzeit sein!"
Ottried blickte zum Himmel, wo trotz strahlendem Sonnenschein die blasse Scheibe des fast vollen Kalan zu erkennen war. "Nicht jeder Vollmond", widersprach er eilig. Er wollte den Wassermann und seine Schätze solange wie möglich an sich binden. "Nur der Vollmond von Carab soll gelten." Carab, der Silberne, brauchte von den drei Monden am längsten, um seine Phasen zu durchlaufen. Carab zeigte sich nur dreimal im Jahr als Vollmond. Das mochte als Zeitraum ausreichen. "Und du wirst die Hochzeiten ausrichten", fuhr Ottried fort, als ein Plan in seinem Geiste Gestalt annahm. "Die Hochzeitsnacht soll aber in meinem Hause verbracht werden, danach können unsere Kinder entscheiden, wo sie leben wollen."
Der Flusskönig überlegte einen Moment. Dann nickte er schließlich. "Für das Glück meiner Söhne soll es so sein." Er griff in das klare Wasser des Gyraha und zog etwas heraus. Es war das silberne Fell des Hirsches, in dem das goldene Geweih eingeschlagen war. "Dies zur Besiegelung des Bundes. Du sollst mit dem Preis nicht unzufrieden sein. Nun geh und sprich mit deinen Töchtern. Am nächsten Vollmond des Carab soll die erste Hochzeit sein."
Hastig griff Ottried nach dem nur feuchtem Fell und strich mit zitternden Finger darüber. Es war wirklich aus reinem Silber. "Gut", sagte er mühsam beherrscht. "Meine älteste Tochter wird bereit sein!"
"So sei es." Und in eine rauschenden Strudel verschwand der Alte im Wasser. Nur das Fell in Ottrieds Händen war der Beweis, dass nicht alles nur ein Traum war.
Als der Mann in sein Haus zurückkehrte, rief er seine vierzehn Töchter zu sich. Er erzählte ihnen von seiner Begegnung mit dem Flusskönig, zeigte ihnen das prachtvolle Fell und sprach schließlich auch von dem Handel, den er abgeschlossen hatte. Die Mädchen und jungen Frauen begannen nun zu klagen und zu schimpfen. Wie prächtig die Schätzte auch sein mochten, so wollten sie sich doch nicht an kalte Fische verkaufen. Sie waren Ottrieds Töchter, die schönsten Frauen der Insel. Wie sollten sie mit schuppigen Wassermännern leben!? Doch die Worte des Vaters vermochten die stolzen Mädchen zu beruhigen, denn auch dafür hatte der listige Ottried einen Plan.
Als sich Carab zum Vollmond rundete, machte sich die Älteste von Ottrieds Töchtern für die Hochzeit bereit. Ruhig kleidete sie sich in edle Gewänder und wartete auf die Nacht. Kurz nach Sonnenuntergang erklang vom Gyraha eine seltsame Musik. In einer prächtigen Prozession zog eine große Gruppe vom Fluss zum Haus des Ottried. Tische und Stühle wurden aufgebaut, Fisch und Meeresfrüchte serviert. Eine Truhe voll schönster Perlen waren das Geschenk für die Braut.
Ottried und seine Töchter begaben sich hinab. Und so wurde seine älteste Tochter mit dem ältesten Sohn des Flusskönigs vermählt. Der Bräutigam war ein schlanker junger Mann mit meergrünem Haar und meergrünen Augen. Seine Haut glänzte silber-geschuppt, und er betrachtete seine schöne Braut mit verliebten Blicken.
Schließlich wurde das Brautpaar ins Haus geführt. Das Gefolge des Flusskönigs zog sich ans Flussufer zurück, während Ottried seine anderen Töchter auf ihre Zimmer schickte. Dann trat er vor das Gemach der Brautleute. Als seine Tochter ihm die Tür öffnete, huschte er in das Zimmer und tötete den ahnungslosen Schwiegersohn. Denn das war der Plan des geldgierigen Mannes und seiner Töchter gewesen. Sie sollte ihn mit einem Mittel betäuben, noch bevor er sie anrühren konnte. Und Ottried konnte den so betäubten einfach umbringen. Die Leiche des jungen Wassermannes wurde in einem tiefen Keller des Hauses verborgen.
Kurz bevor sich der Flusskönig und sein Gefolge wieder in ihr Element zurückziehen mussten, erklärte Ottried, dass die jungen Leute unter seinem Hause weiterleben wollten. Die Braut bestätigte dies mit einem strahlenden Lächeln und zog sich dann wieder in ihr Zimmer zurück, um sich an den prächtigen Perlen zu erfreuen.
Der Flusskönig glaubte den Versicherungen und bestätigte die Gültigkeit des Handels. Dann ging er zurück in den Fluss, doch nicht ohne noch einmal an den nächsten Vollmond zu erinnern.
Der Reichtum von Ottried stieg nun beträchtlich an. Seine Fischer machten immer reichen Fang, selbst wenn alle anderen über schlechte Zeiten klagten. Jede der gefangenen Muscheln enthielt eine Perle, und die Ländereien am Flussufer blühten. Der Flusskönig hielt seinen Teil des Handels ein, ohne je den Verrat zu bemerken. Seine Söhne heirateten die Töchter des Ottried und jeder von ihnen wurde auf die selbe scheußliche Art gemeuchelt. Die Mädchen erfreuten sich an ihren Schätzen und waren froh, nicht mit den Söhnen des Wassermannes leben zu müssen.
Schließlich war es an der Zeit, noch die letzte Hochzeit zu vollziehen.
Bang erwartete Askhi, die jüngste Tochter des Ottried den nächsten schicksalhaften Vollmond. Auch ihr hatten die Schätzen ihrer Schwestern gefallen, doch scheute sie sich davor, mit einem Wassermann vermählt zu werden. Sie fürchtete sich vor der kalten Fischhaut des nassen Bräutigams. Ihre Schwestern versuchten sie beruhigen - schließlich würde die Ehe nicht von langer Dauer sein.
Carab zeigte sich als Vollmond und wieder zog die Hochzeitsgesellschaft vom Flussufer heran. Ängstlich ließ sich Askhi von ihren Schwestern für die Hochzeit schmücken.
Ottried eilte freudig hinaus um die Gäste zu begrüßen. Er war guter Laune und keiner konnte seine finsteren Absichten ahnen. Er versicherte dem Flusskönig, dass es seinen anderen Söhnen gut ginge und bedauerte gleichzeitig, dass sie nicht dabei sein konnten. Wie immer glaubte der alte Mann den Versicherungen. Er grämte sich zwar, dass seine Söhne ihn nicht begrüßten, hatte aber erwartet, dass sie sich schnell in der Menschenwelt verlieren und ihren Vater so vergessen würden.
Askhi verließ nun ebenfalls das Haus und wurde ihrem Bräutigam vorgestellt. Teoni, der jüngste Sohn des Flusskönigs, war schlank und doch kräftig. Sein Haar war tiefblau und seine Augen hatten die türkisgrüne Farbe von klaren Seen. Seine Haut hatte einen leichten grünen Schimmer. Liebevoll ruhten seine türkisen Augen auf seiner schönen Braut. Askhi war von der echten Liebe, die sie darin spürte zutiefst überrascht. Ihre Angst verging und sie ließ sich unbesorgt neben ihm nieder. Die Zeremonie schritt voran. Erneut stiegen Bedenken in Askhi auf, als der Hochzeitskuss erwartet wurde. Doch ein Blick in die liebevollen Augen, zerstreuten jede Angst. Die Berührung war nicht kalt und unangenehm. Der Kuss streifte sie wie ein warmer Sommerregen. Ihr Herz flog ihm zu, und sie schmiegte sich schutzsuchend in seine starken Arme.
Als die Brautleute schließlich ins Haus geführt wurden, hielt Askhi ihren Vater zurück. Sie bat ihn, ihr den Mord zu überlassen. Stolz drückte Ottried seiner jüngsten Tochter einen Kuss auf die Stirn und gab ihr das Messer für die böse Tat. Schaudernd wandte sich Askhi ab und schloss die Tür. Allein mit Teoni gestand sie ihm unter Tränen das grausame Spiel ihres Vaters. Sie wollte nicht zu Ottrieds Verbündeter werden, auch wenn sie schon so lange von seinen Morden wusste. Und sie wollte Teoni nicht verlieren.
Der junge Wassermann war erschüttert und fassungslos über das Schicksal seiner Brüder. So kalt und gewissenlos hatte Ottried jeden einzelnen von ihnen umgebracht! Dafür würde er bezahlen!
Doch Teoni konnte Askhi keinen Vorwurf machen. Sie versuchte schließlich, ihn zu retten, auch wenn diese Hilfe für seine Brüder zu spät war. Langsam strich er der heftig schluchzenden Askhi übers Haar. Er liebte diese Frau, seit er sie das erste Mal hatte im Gyraha baden sehen!
Schließlich beruhigte sich die junge Frau wieder. Sie genoss die tröstende Sicherheit von Teonis Stärke und schmiegte sich dicht an ihn. Dennoch waren die beiden hier in Gefahr. Spätestens zum Morgengrauen würde Ottried erscheinen, um die Leiche seines Schwiegersohns zu beseitigen. Und wenn er den Verrat seiner Tochter bemerkte, wäre auch sie vor seinem Zorn nicht sicher. Leise berieten die beiden, wie sie sich retten konnten. Zwar war der Flusskönig mit seinem Gefolge nicht weit vom Haus, doch dieser Weg war streng bewacht. Es gab daher nur eine Möglichkeit zu entkommen.
Vorsichtig öffnete Askhi die Tür. Zum Glück war der Gang nicht bewacht, und auch ihr Vater mochte in seinem Zimmer liegen und schlafen. Sie winkte Teoni, ihr zu folgen und führte ihn durch den Keller des Hauses. Dort gab es einen geheimen Gang in die Freiheit.
Im Keller blieb der Wassermann beklommen stehen. Er fühlte sich nicht wohl in abgeschlossenen dunklen Räumen, und er glaubte die Stimmen seiner toten Brüder hören zu können. Askhis warme Hand zog ihn schließlich weiter.
Die beiden Liebenden folgten dem geheimen Tunnel eine lange Zeit. Schließlich führte der Gang wieder an die Oberfläche. Die beiden befanden sich nun in den Hügeln südlich vom Haus.
"Wir müssen zum Wasser!" flüsterte Teoni hastig. Er griff nach Askhis Hand und wollte sie mit sich ziehen. Die Frau blieb jedoch stehen und deutete angstvoll auf das Haus ihres Vaters, das am dunklen Horizont zu erkennen war. Im Haus waren viele Lichter aufgeflammt, die nichts Gutes verhießen.
"Sie folgen uns!"
Teoni murmelte einen halblauten Fluch und lief mit Askhi los. Sie mussten nach Nordwesten zum Gyraha, durften dem Haus und den Häschern dabei aber nicht zu nahe kommen.
Der Weg zum Fluss schien sich endlos zu dehnen. Die beiden liefen ohne Pause und befürchteten dabei immer, von den Verfolgern entdeckt zu werden. Schließlich schimmerte das Wasser des Gyraha durch die Bäume vor ihnen. Für einen Moment blieben die beiden stehen, um wieder zu Atem zu kommen. In diesem Augenblick hörten sie hinter sich die Geräusche von Pferdehufen. Pure Verzweiflung stand in Askhis Augen, doch Teoni zog sie entschlossen weiter.
Die Geräusche des Pferdes kamen immer näher, doch sie mussten die Fluss vorher erreichen. Schließlich war der Gyraha ganz nahe. Sie waren nur noch ein paar Schritte vom Wasser entfernt, als plötzlich ein Pferd durch das Unterholz hinter ihnen brach.
Teoni wirbelte herum und sah sich Ottried gegenüber, der mit einer Armbrust auf ihn zielte. "Weiter nicht, ihr beiden Turteltäubchen!" Ottried lächelte böse. "Ihr beide werdet mir nicht alles zerstören!"
Teoni wich einen Schritt zurück. Dabei beobachtete er den großen Mann wütend. Am liebsten hätte er sich auf ihn gestürzt und erwürgt! Der Mann hatte seine Brüder umgebracht! Er hatte sie jahrelang betrogen! Doch die Armbrust war keinen Zoll von ihrem Ziel abgewichen.
"Vater, tu das nicht!" Askhi blickte beschwörend zu Ottried auf. "Bitte!"
Der Mann warf ihr einen kalten Blick zu. "Dass ausgerechnet du mich verrätst! - Aber ich werde mich von euch beiden nicht aufhalten lassen!"
Askhi schluckte und stellte sich schützend vor Teoni. "Das lasse ich nicht zu!"
Ottried zuckte nur mit den Schultern. "Du hast deine Seite gewählt." Und dann schoss er. Der Armbrustbolzen traf sie mitten in die Brust. Sie taumelte gegen Teoni, der sie auffing. Er wankte einen Schritt zurück und sank schließlich auf die Knie. Die sterbende Askhi hielt er fest in seinen Armen. Kalte Wellen schlugen gegen seine Füße.
"Nein!" schrie er verzweifelt auf. "Vater! Sieh, was er getan hat!"
Inzwischen hatte Ottried kaltblütig die Armbrust neu gespannt. Er zielte nun auf Teoni und meinte: "Dein Vater wird dir jetzt auch nicht helfen."
Mit einem mächtigen Tosen erhob sich der Fluss hinter dem Paar. In übermenschlicher Größe erschien der Flusskönig. Finster lag sein Blick auf Ottried. In den grünen Augen schien ein Sturm zu toben. Das Wasser wirbelte um ihn herum und Blitze zuckten herab. Mit einem harten Schlag wurde Ottried die Armbrust aus der Hand gerissen.
Teoni blickte zu ihm auf. In den türkisen Augen schwammen Tränen. "Er hat meine Brüder getötet", flüsterte er tonlos. "Und er wollte mich umbringen. Und Askhi..." Seine Stimme brach. Er blickte auf die verletzte Geliebte. Ihr warmes Blut lief über seine Hände, aber er konnte es nicht stoppen.
Der Flusskönig richtete seinen machtvollen Blick wieder auf Ottried. Dieser konnte sich nicht mehr rühren. Bewegungslos saß er auf dem Pferd und war dem durchdringenden Blick des Wassermannes ausgeliefert.
"So hast du uns also verraten!" Tiefer Schmerz schwang in der Stimme des Flusskönigs mit. "Alle meine Söhne, deren Glück ich wollte." Er hob den Arm. Wasser floss daran hinab wie ein Vorhang. "Diese beiden nehme ich mit mir!" Das Wasser umhüllte Askhi und Teoni, und nahm sie sanft mit sich.
"Und dich Ottried, dich verfluche ich! Dich und deine dreizehn Töchter! Auf ewig sollt ihr in meinem Reich gefangen sein, angekettet zwischen Ebbe und Flut! Ihr werdet leiden, so wie ich durch euch leide! Und so lange ich diesen Schmerz noch spüre, soll es für euch keine Rettung geben!"
Mit einer Flutwelle wurde Ottried vom Pferd gerissen. Fluchend und strampelnd wurde der Mann in den Fluss gezogen. Zur gleichen Zeit stürzte eine riesige Flutwelle über das Anwesen von Ottried und riss alle seine Töchter mit sich. Das Haus wurde völlig zerstört. Sämtliche Schätze wurden weggespült. Und auch der Keller, in dem die Söhne des Flusskönigs verscharrt worden waren, wurde von den Wassermassen aufgebrochen.
Den Menschen, die dieses Land bewohnten, geschah wie durch ein Wunder nichts Böses. Dennoch heißt es, dass man bei Vollmond das Stöhnen und Kettenklirren von Ottried hören kann. Und das klagende Singen seiner dreizehn Töchter. Aber man sagt auch, dass manchmal bei Mondschein ein Liebespaar am Fluss spazieren geht, das leise lachend in den Fluten verschwindet.

Simara
14.04.2003, 15:09
Hi Vinni,

tolle Geschichte. Hat mir sehr gefallen.
Obwohl mich am Anfang das "Es war einmal" etwas *irritiert* hat.
Dann kam das "vor langer Zeit" und in meinem Kopf hörte ich "in einer weit weit entfernten Galaxis" :D Okay, ich bin Star Wars-belastet. ;)

Ich fand die Geschichte leicht und flüssig zu lesen. Fasziniert hat mich die Beschreibung der Wassermänner. Das hätte es noch etwas mehr sein können. Eine Beschreibung der Askhi wäre auch sehr schön gewesen.

Und die Geschichte hat so etwas wie Happy End. :)
Die Mehrzahl der Geschichten hier im Storytelling haben ein offenes und düsteres Ende. Mir persönlich sind schöne Enden lieber.

Dies nur so als Kommentar. :)

Vinni
14.04.2003, 17:06
Hach, danke Simara! Ich bin ja so froh, daß sich überhaupt mal jemand äußert - sonst fühlt man sich immer so verloren... :P

Die Geschichte geht deshalb mit dem Standartsatz los, weil sie zur Sagenwelt meiner Romanwelt (http://www.zorthan.de) gehört; deshalb auch das klassische Happy End. Ich finde es einfach schön, für meine Welt einen Hintergrund zu basteln, in dem es dann auch so einfache Dinge wie Märchen und Sagen gibt - auch wenn diese nur mal am Rande erwähnt werden. Obwohl es hier umgekehrt war, erst gab es die Erwähnung (einer der Handelnden flucht "beim verfluchten Ottried!" vor sich hin) und dann kam der Gedanke: klingt ja nach 'ner interessanten Geschichte...