Mary Reilly



Produktionsjahr: 1996
Regie: Stephen Frears
Drehbuch: Christopher Hampton
Musik: George Fenton
Darsteller: Julia Roberts, John Malkovich, George Cole u.a.

Nachdem ich diese Neuinterpretation der "Jekyll und Hyde"-Geschichte zuletzt vor einigen Jahren gesehen hatte, erstand ich die DVD gestern zum Schnäppchenpreis und konnte so meine Erinnerungen wieder auffrischen.

In den 1990ern wurden einige Horrorklassiker mit großem Aufwand erfolgreich neu aufgelegt - es seien beispielhaft nur Coppolas "Dracula" (1992) und Branaghs "Frankenstein" (1994) genannt. Diese Neuverfilmungen erhoben allesamt den Anspruch, die Romanvorlagen so werkgetreu wie niemals zuvor umzusetzen, was sich darin manifestierte, dass man ihrem Titel die Namen Bram Stoker bzw. Mary Shelley voranstellte. "Mary Reilly" hingegen basiert nicht auf der Novelle von Robert Louis Stevenson, sondern viel mehr auf dem Roman "Im Haus des Dr. Jekyll" von Valerie Martin, der die Geschichte aus Sicht des Dienstmädchens erzählt. Und trotz des großen Staraufgebots (Roberts, Malkovich) und des üppigen Budgets von über 40. Mio. $ floppte "Mary Reilly" an den Kinokassen. Dabei ist er gar nicht so schlecht...

Insgesamt schlägt der Film weitaus ruhigere Töne an als seine Vorbilder von Coppola und Branagh, die doch sehr temporeich inszeniert sind. Die Szenen finden hier fast ausschließlich im Hause Dr. Jekylls statt, die Handlung konzentriert sich vollständig auf Mary und Jekyll/Hyde. Der Soundtrack von George Fenton untermalt dieses Kammerspiel mit dezenten Klängen. Die Horrorelemente werden größtenteils nur angedeutet, indem z.B. die blutige Bettwäsche gezeigt wird. Nichtsdestotrotz ist der Schrecken jederzeit spürbar. Umso wirkungsvoller ist schließlich der Schockmoment, als Hyde den Kopf der toten Mrs. Farraday (in dieser Rolle herrlich: Glenn Close) in den Händen hält! Die Verwandlung von Jekyll zu Hyde wird erst zum Ende hin einmalig in Szene gesetzt und visualisiert dabei auf außergewöhnliche und faszinierende Weise den inneren Zweikampf der Figur. Gerade in diesem Punkt stellt "Mary Reilly" ein absolutes Novum gegenüber bisherigen Verfilmungen des Stoffes dar. Grandios sind weiterhin die schauspielerischen Leistungen von Julia Roberts und John Malkovich. Roberts begeistert als schüchternes, gequältes Dienstmädchen, das nach einer Kindheit voller Misshandlungen durch ihren Vater bei Jekyll Zuflucht findet und allmählich in den Bann von Hyde gerät - insbesondere auf sexueller Ebene. Malkovich liefert eine brilliante Vorstellung als geschwächter, von seinen Medikamenten abhängiger Jekyll, der zunehmend unter Entzugserscheinungen leidet, während sein alter ego, Hyde, stetig dynamischer und auch bedrohlicher wird und allmählich die Oberhand gewinnt. Großartige Dialoge sind diesen beiden (oder dreien?) Figuren auferlegt, und durch das Gespann Roberts/Malkovich werden sie wahrhaftig lebendig.

Die Inszenierung ist weitestgehend konsequent. Nur selten verlässt die Story den Hauptpfad, um beispielsweise Marys Kindheit zu thematisieren. Das erweckt einerseits Mitleid, andererseits macht es die Facetten ihres Verhältnisses zu Jekyll/Hyde begreifbar. Jekyll/Hyde ist gewissermaßen die Widerspiegelung ihres Vaters - zum einen wird sie gepeinigt, zum anderen ist sie von ihm abhängig und schutzbedürftig. Weiterhin zeichnet der Film ein kleines Gesellschaftsbild des viktorianischen Englands, das durch strikte Hierarchien bestimmt wird, hier anhand des Dienstpersonals, an dessen Spitze der Butler Poole steht. Die Dekadenz dieser Gesellschaft wird am Beispiel des Freudenhauses der Mrs. Farraday thematisiert, in welchem sogar namhafte Politiker ein- und ausgehen.

Problematisch ist allerdings der flache Spannungsbogen, der zwar die Story konsequent bis auf den Höhepunkt treibt, aber auf dem Weg dorthin die Spitzen und überraschenden Wendungen missen lässt. Gerade im Vergleich zu Coppolas und Branaghs Beiträgen zur Wiederbelebung des Horrorfilms sind diese Defizite unübersehbar, und dadurch bleibt so manche Erwartung unerfüllt. Auch in Anbetracht früherer Verfilmungen gelingt es "Mary Reilly" nur spärlich, den Zuschauer mitzureißen; hier bleibt man stets der unbeteiligte Beobachter, der irgendwann ermüdet ist.

Die Stärken des Films liegen in seiner enorm dichten Atmosphäre, die auf große Schocker, Sensationen und Special Effects verzichtet. Stattdessen lebt er von seinen grandiosen Darstellern, seiner stimmungsvollen Bildsprache und seiner Zurückhaltung. "Mary Reilly" ist ein besinnliches Gruseldrama, das die altbekannte "Jekyll und Hyde"-Geschichte aus einer neuen Perspektive betrachtet und ihr neue Aspekte hinzufügt. Allerdings führt die kammerspielhafte Inszenierung zu mancher Länge, und es wäre wünschenswert gewesen, wenn die Story etwas straffer und mit weiteren Höhepunkten versehen worden wäre.

Meine Wertung: 6/10 Punkten