Die Höhle des Himmels 2
Es konnte ja gar nicht anders sein. Sein Großvater war durch dieses seltsame wabernde Ding hindurchgetreten, genau so, wie auch schon die ganzen anderen alten Leute es vor ihm getan haben mussten. Alle, die gestorben waren, mussten durch den Dorfmagier auf diese seltsame Weise hierher gebracht worden sein. Alle waren von seinem Stamm gewesen und konnten sich also in Tiere verwandeln. Es war doch eigentlich nichts klarer als die Tatsache, das vor ihm einer der angeblich Verstorbenen stand. Nein, saß, nein, doch besser eingebuddelt dalag. Aber etwas war bei dieser Überlegung doch verwunderlich. In der anderen Welt konnte man sich nur Nachts in Tiere verwandeln. Die Alten erklärten das mit der grellen Sonne. Sie verhindert den Urmächten der Erde an die Oberfläche zu gelangen. Genau diese Mächte durchströmen in der Nacht alles was lebt und ermöglicht denen, die verstehen mit damit umzugehen, ungemeine Dinge zu vollbringen.
Nachdem Paro seinen Schrecken überwunden hatte, beugte er sich wieder weiter runter. Er ging sogar auf alle viere, um dem Maulwurf Auge in Auge gegenüber zu sein. Er wollte schließlich einem seiner Vorfahren alle Ehren erweisen und nicht auf ihn herabblicken.
Der Maulwurf blieb weiter stumm. Nach seinem ersten Auffahren war er unglaublich still geworden. Als sich Paro mit seinem Gesicht der Maulwurfnase näherte, weiteten sich dessen Augen (soweit man bei einem Maulwurf überhaupt davon sprechen kann).
Da fiel Paro auch ein, dass sein Vater ihm einst erzählt hatte, dass Maulwürfe überhaupt nicht sehen können, was ja auch nicht verwunderlich ist, denn sie verbringen ja die meiste Zeit ihres Lebens unter der Erde. Paro hatte sich damals gleich daran gemacht das auszuprobieren und hatte sich eines dieser blinden Lebewesen gefangen, um belustigt dabei zuzusehen, wie das Tier orientierungslos und voller Angst in der Gegend umherlief und schließlich gegen eine umherstehende Schaufel stieß. Paro hatte sich darüber königlich amüsiert, nur Ari war über sein quälerisches Handeln nicht sonderlich erfreut gewesen.
„Kann das sein?“, fragte der Maulwurf. Er kniff die Augen zusammen. „Ja es ist so. Aber das ist doch unmöglich!“ Die kleinen Augen tasteten Paro von oben bis unten ungläubig ab.
Paro kam sich in seiner Rolle als Begaffter langsam albern vor und setzte zum Reden an: „Ähm, verzeih mir, wenn ich mich auf deine Wohnung gesetzt habe, aber ich bin leider etwas verwirrt.“
Der Maulwurf antwortete nicht.
„Hättest du die Güte mit mir zu sprechen?“ Paro kam sich nun wirklich lächerlich vor. Es war so, als redete er mit sich selber. Trotzdem versuchte er es noch einmal, nur etwas höflicher: „Hättet Ihr die Güte mit mir zu sprechen?“
Nun zeigte sich doch eine kleine Regung. Der Maulwurf machte den Mund auf und sagte: „Das ist doch nur unmöglich.“
Paro sank seufzend zurück. So ungewöhnlich war er doch nun auch wieder nicht, oder hatte er durch dieses Tor vielleicht eine andere Nase bekommen. Er konnte nichts gegen den plötzlich Impuls unternehmen, dass seine Hand an seine Nase fasste. Erleichtert stellte er fest, dass sie immer noch am selben Fleck saß und noch die gleiche Form besaß.
Dem Maulwurf musste Paros seltsames Gebaren aus seiner Erstarrung gerissen haben, den er sagte auf einmal: „Oh, ich war geistesabwesend. Aber es ist doch vollkommen unmöglich..“. „Nein es ist doch möglich, wie du, verzeiht, Ihr seht.“, unterbrach Paro ihn barsch. Er war das kleine Vieh langsam leid, mochte es auch vielleicht noch so sehr einer seiner Vorfahren sein.
„Verzeih mir.“, entgegnete der Maulwurf. „Die Situation ist nur etwas ... verwirrend.“ Das merkt man, dachte Paro. „Aber ich habe einfach so lange keinen Menschen mehr gesehen. Das heißt einen Menschen in menschlicher Gestalt, mit menschlichen Zügen, mit menschlichen Gesten mit ... einfach nur ein ... MENSCH.“
Das nun verwirrte Paro. Es musste dem kleinen Ding vor ihm, denn inzwischen konnte er sich seiner ersten Theorie doch nicht mehr so sicher sein, dass es unbedingt ein Mensch sein muss, wirklich etwas bedeuten ihn zu sehen. Und das musste wiederum etwas bedeuten.
„Es freut mich ja auch euch zu sehen, aber ich hätte da einige kleine Fragen.“ Der Maulwurf sah ihn aus seinen kleinen runden Augen erwartungsvoll an. Paro bemerkte wie der Maulwurf kleine schnelle Atembewegungen machte. Bevor er weiter etwas sagen konnte machte der Maulwurf selber den Mund auf und sagte: „Das kann warten, du bist hier in großer Gefahr, weißt du das nicht?“ Paro blickte etwas ungläubig auf des Wesen vor ihm herab. „Warum sollte ich in Gefa....“. da spürte Paro am Hinterkopf ein leichtes Hämmern, das ihn schmerzhaft an den Schlag erinnerte, den er erst vor kurzem eingefangen hatte. Er war in Gefahr gewesen. Nur warum war er dann noch hier? Vielleicht war er ja gar nicht mehr hier. Vielleicht erlebte er das ja gar nicht. Deswegen kam ihm das alles auch so unwirklich vor. Den in Träumen konnten auch mal am Tag unvermittelt sinnloses Zeug schwafelnde Maulswürfe vorkommen. Aber hat man in Träumen Schmerzen? Eigentlich musste das Paro bejahen. Denn so Erlebnisse hatte er schon ein paar mal gehabt. Aber dennoch...
Das seltsame Gefühl am Hinterkopf brachte ihn zu seiner ersten Frage: „Sagt bitte, werter ...ähh.“ „Bembuddl mein Name.“, antwortete der Maulwurf hektisch.
„Werter Bembuddl“, begann Paro aufs Neue. Dieser Name kam ihm wirklich albern vor, aber was sollte er machen. „Dürfte ich euch etwas fragen?“
„Einfach Bembuddl.“, entgegnete der Maulwurf wieder. „Aber sei still. Wir müssen sofort von hier weg. Es wundert mich sowieso dass sie euch noch nicht gefangen haben.“ Paro wurde langsam nervös. Wovor hatte Bembuddl Angst? Das dumme war, das sich dessen Gebären auch auf Paro auswirkte.
„Was, was ist denn los?“, begann Paro zu fragen, doch er bekam keine Antwort. Stattdessen befreite sich Bembuddl aus dem letzten Rest Erde, in die er eingebuddelt gewesen war und entgegnete aufgeregt: „Nimm mich auf deine Hände. Ich führe dich weg von hier!“ Paro war es einfach nicht möglich das zu tun. Erstens gehorchte er nicht gerne Befehlen von fremden Leute (von fremden Wesen, die um einiges kleiner waren als er selbst, schon gar nicht gerne) und zweitens war er viel zu verwirrt um überhaupt eine andere Bewegung zu machen als vor und zurück zu wippen.
„Nun beeil dich doch. Verspiele deine letzte Möglichkeit nicht.“, versuchte ihn Bembuddl umzustimmen.
Paro war gerade im Begriff dem Befehl folge zu leisten, da blickte Bembuddl durch Zufall in den Himmel und obwohl er anscheinend nicht gut sehen konnte, erschrak er doch. Paro lehnt sich zurück und blickte ebenfalls in den Himmel. Er erkannte im hellblauen Ewigem nichts. Er blickte wieder nach unten zurück und konnte gerade noch sehen, wie Bebuddl wieder in seinem Erdgang verschwand.
„Was ist hier bloß los?“, stammelte Paro vor sich hin. Plötzlich spürte er einen leichten Luftzug, der von hinten seinem Kopf näher kam. Eine halbe Sekunde später flog etwas haarscharf über seinen Kopf hinweg. Der Luftsog wirbelte seine Haare durcheinander und etwas erfasste ein paar seiner Haare und riss sie heraus.
Paro wirbelte auf dem Boden herum und schrie kurz auf vor Überraschung. Den Schmerz bemerkte er kaum. Er war viel zu viel eingenommen von dem plötzlichen Überfall. Mit einem schnellen Seitenblick konnte Paro erkennen, dass Bembuddl nicht mehr zu sehen war. Leicht beeindruckt von der Schnelligkeit des kleinen Tieres, aber auch verärgert über dessen die Feigheit blickte Paro auf und sah sich um. Niemand war zu sehen. Er keuchte. Das konnte doch nicht sein. Da erinnerte er sich, dass Bembuddl in den Himmel geschaut hatte, bevor er seine Panikattacke erhalten hatte. Paro schaute also nochmals auf und konnte sich gerade noch rechtzeitig ducken als ein schwarzer kleiner Schatten dicht über ihn sauste. Paro wollte aufstürmen und davon rennen, gar nicht darüber nachdenkend, wohin er überhaupt rennen könnte. Er rappelte sich auf, doch sein Vorhaben wurde durch seine eigene Ungeschicklichkeit vereitelt. Er rutschte aus und fiel der Länge nach hin. Kurz flimmerten vor seinen Augen Sterne, die aber genau so schnell wie sie gekommen waren auch wieder verschwanden. Paro drehte sich auf den Rücken und konnte gerade noch die Arme vor sein Gesicht ziehen, als erneut der kleine Schatten auf ihn zuflog. Paro erwartete eine neue Attacke des unbekannten Angreifers. Doch statt dessen spürte er erst einen kleinen Luftzug, der ausgehend vor seiner Brust bis zu seinem Gesicht herauf wehte und dann mehrere kleine Spitzen, die sich in seine Haut bohrten. Der Schmerz war nicht sonderlich groß, aber dennoch gab es Paro ein Gefühl der Unterlegenheit.
Kurze Zeit geschah nichts. Paro war sich eigentlich sicher, dass irgendetwas geschehen würde, aber warum musste der Angreifer nur so lange damit warten. Konnte er der Sache nicht ein schnelles Ende machen?
Als nach ein paar weiteren Sekunden immer noch nichts geschah zog Paro langsam den Arm wieder runter. Ihm war seine Sicherheit keineswegs egal, nur wollte er das unbekannte Ding oder den unbekannte Jemand endlich sehen. Nach und nach wurde das Ding auf seiner Brust sichtbar. Paro war es peinlich. Das, wovor er Angst hatte, war nichts anderes als ein Vogel, besser gesagt ein schwarzer Rabe, der ihn aus seinen kleinen schwarzen Augen misstrauisch betrachtete.
„Wen haben wir denn hier?“, krächzte das gefiederte Wesen. „Ein Spion der malurischen Garde wohl. Wie kann es auch anders sein?“
Der Rabe hatte eine tiefe Tonlage, anders als Bembuddls höherer Stimme. Irgendwie passte sie gar nicht zu so einem kleinen Wesen, aber andersherum unterstrich sie zusammen mit dem schwarzen Gefieder die Bedrohlichkeit, die von ihm ausging. Und etwas kam Paro noch eigenartig an der Stimme seines Gegenübers vor oder besser gesagt an seinem Vonobenruntergucker.
Paro wollte sich gegen die Aussage des Vogels (oder wer sich auch immer dahinter verbarg) wehren, doch der Rabe schnitt ihm vorher das Wort ab: „Du brauchst dich gar nicht zu rechtfertigen! Es kann gar nicht anders sein. Es gibt nur böse Menschen.“
Nur böse Menschen. Bedeutete das etwa, dass der Vogel doch nicht einer seiner Vorfahren war? Paro merkte, wie er sich wieder in Gedanken verstrickte, wurde aber durch den Raben unterbrochen.
„Da habe ich doch gute Arbeit geleistet. Gleich vier von der Sorte in die Flucht geschlagen.“ Bei diesen Worten trat der Vogel auf und ab und zupfte mit seinen Krallen an Paros Hemd herum und fügte ihm dadurch noch mehr Schmerzen zu.
„Du brauchst gar nicht versuchen dich zu wehren.“, begann der Rabe wieder. „Ich habe drei Große vertrieben. Dann kannst du dich überhaupt nicht wehren.“
Paro wollte auffahren, zuckte aber zurück als der Rabe ihn plötzlich ankrähte. Es tat richtig weh in den Ohren.
Er begann wieder herumzuzupfen und krächzte: „Was habe ich gerade gesagt du...“
„Lass doch endlich den Jungen in Ruhe.“, maulte es plötzlich von weiter unten. Paro war richtig froh wieder die Stimme von Bembuddl zu hören, der seinen Schrecken anscheinend zu überwunden haben schien. Mit einem Seitenblick, der ihm vom Raben sogar erlaubt wurde, konnte Paro sehen, wie der kleine Maulwurf wieder ganz aus seinem Gang heraus war und zum Raben herauf sah. Seine Stimme hörte sich wirklich erbost an.
„Ach, du auch in der Nähe?“, begann der Rabe wieder. „Machst du jetzt auch noch gemeinsame Sache mit denen?“
„Wie kommst du denn auf die Idee?“, antwortete Bembuddl. „Du weißt doch ganz genau, dass ich das niemals tun würde. Aber schau ihn dir doch an.“ Dabei wies er mit einer seiner Vorderpfoten auf Paro, der noch immer ziemlich unbeteiligt dalag. „Sieht er aus wie ein Soldat malurischen Garde?“
Der Rabe schaute wieder zurück auf Paro, musterte ihn einen kurzen Moment und schüttelte dann seinen Kopf, wobei eine kleine Feder zu Boden fiel.
„Nein, wie einer von der Garde sieht er nicht aus. Aber hat das was zu bedeuten? Gerade erst hab ich eine neue Entdeckung gemacht.“ Der Rabe hielt kurz inne. Als er weitersprach war seine Stimme leise und klang verschwörerisch. „Ich war hinter dem Wall.“ Wie Bembuddl reagierte konnte Paro nicht genau erkennen, da er sich dazu hätte umdrehen müssen, wollte sich aber nicht erneut durch die Krallen des Raben verletzten. Trotzdem überhörte er nicht die aufgeregte Stimme des Maulwurfs: „Bist du verrückt geworden? Du weißt doch das das verboten ist. Keiner von uns darf hinter den Wall. Wenn man dich erwischt sind wir alle dran.“
„Sei doch nicht so schwarzmalerisch.“, erwiderte der Rabe. „Den einzigen den das etwas angeht bin ich. Wenn sie mich erwischen schießen sie mich ab und die Maus ist gefressen.“ „Ich hasse es wenn du diesen Spruch machst, Krämli. Du weißt doch, dass meine beste Freundin eine Maus war, die von einem Adler getötet wurde. Weiß ich, wer dieser Mistkerl war, aber wenn ich den erwische... Erst werde ich ihn quälen und ich wäre um deine Hilfe dabei nicht verlegen, dann werde ich eine Grube graben und dann...“. „Du hast ja Recht. Ich kenne da aber eine viel bessere Methode...“, antwortete der Rabe. Paro wurde das ganze langsam seltsam. Da unterhielten sich ein Rabe und ein Maulwurf, möglicherweise zwei seiner Vorfahren, darüber, wie man einen Adler am effektivsten quälen kann. Dabei lag er unten, während auf ihm ein kleiner schwarzer Vogel saß und seine messerscharfen Krallen in seinen Leib bohrte. Paro war klar: Wenn er an der Situation etwas ändern wollte, musste er endlich die Initiative ergreifen.
Die beiden anderen waren immer noch darin vertieft, wie sie den Adler am besten in der Grube behalten konnten. Es hatte sich herausgestellt, das hatte Paro kurz mitbekommen, dass die Adler auch zu den Feinden des Raben gehörten. Warum das so war, war nicht herausgekommen, das war Paro auch egal. Denn während die beiden miteinander um die beste Foltermethode wetteiferten hüpfte der Rabe freudig umher und versetzte Paro damit noch mehr in Rage, den spitzen Krallen zugrunde liegend.
Um den Raben aber nicht noch mehr zu reizen versuchte Paro noch einmal den diplomatischen Weg: „ Verzeiht, wenn ich euch bei eurer Unterhaltung störe, aber ich bin mir nicht ganz sicher worum es hier geht. Ich würde euch gerne bei eurem Unterfangen behilflich sein, was auch immer ihr vorhabt, aber als erstes wäre es sehr nett, wenn Ihr Krämli, so heißt Ihr doch, von mir herunterfliegen könntet.“ Paro fühlte sich unwohl. Gern benutzte er diese hohe Sprache nicht. Sie war ihm von seinem Vater gelehrt worden, Paro sprach aber am liebsten in seiner ganz normalen Sprache. Aber in dieser Situation kam es ihm einfach sinnvoller vor.
Paro schaute zuerst den Raben, dann Bembuddl und dann wieder den Raben an. Beide wirkten etwas verwirrt. Krämli fasste sich aber wieder sofort. Die Stimme des Raben wirkte gefasst und sie zeigte keine Spur von irgendeiner Emotion.
„Erst mal musst du mir beweisen, dass du nicht zu der Garde oder den Menschen gehörst.“ Menschen. Hatte das Paro richtig gehört? Gab es in dieser Welt auch Menschen?
„Wie kannst du nur davon ausgehen, dass er zu den Menschen gehört?“, meldete sich Bembuddl wieder zu Wort. Krämli wirbelte herum, versetzte Paro dabei noch mal einen schmerzhaften Stich, und antwortete: „Weil ich sie gesehen habe. Nicht nur die Garde verlässt den Wall. Auch Männer, die in den Wald gehen und Holz hacken oder die Felder bearbeiten.“ „Und Kinder?“, fragte Bembuddl. „Die hab ich noch nicht gesehen.“, antwortete der Rabe zornig. „Da hast du recht. Keiner von denen war unter zwanzig.“ „Na siehst du.“, versetzte Bembuddl. „Wenn nun also ein menschliches Kind genau hier an dieser gewissen Stelle erscheint kann das kein Zufall sein, oder?“ Und damit wandte er sich an Paro. Als Paro nach einer Sekunde keine Regung zeigte wiederholte er sich noch einmal und fragte nochmals: „Oder?“
Paro riss sich los aus seiner Erstarrung und schüttelte vehement den Kopf, was dazu führte, das sich noch mehr Erde in seinen Haaren verfing. „Nein, ich gehöre nicht zu den Menschen von hinter dem Wall.“ „Wie kommst du dann hierher?“, henkte sich Krämli wieder ein. „Ich, ich...“. Paro war sich nicht sicher, ob er jetzt die Wahrheit sagen sollte. Konnte er sich denn so sicher sein, dass dies hier seine Verbündeten waren und nicht etwa die Menschen hinter dem Wall. Da aber setzte sich plötzlich etwas zusammen in Paros Kopf. Der Rabe hatte etwas davon erzählt, dass er bereits drei Gestalten vertrieben habe, ausgenommen, ob Paros Großvater dabei gewesen war oder nicht. Kurz nachdem Paro hier in diese Welt gekommen war, war er niedergeschlagen worden. Da er keinen anderen Menschen oder ein anderes Wesen nach seinem Erwachen gesehen hatte, kann es doch nur so gewesen sein, dass er von diesen Gestalten niedergeschlagen worden sein musste. Folglich konnten sie nicht freundlich mit Paro gesinnt sein. Andererseits: Wie hätte Paro selbst reagiert, wenn plötzlich ein total Fremder vor seinen Augen erscheinen würde. Aber Moment: Wenn sie schon hier gestanden hatten, müssen sie dafür einen Grund gehabt haben. Und diese Angelegenheit konnte nach Paros Erlebnis in der großen dunklen Höhle keineswegs gut gewesen sein. Also mussten die Menschen ihm gegenüber feindlich eingestellt sein, wenn es denn Menschen waren, die ihn niedergeschlagen hatten.
So fuhr Paro fort: „Ich habe eine Frage. Waren es Menschen die Ihr verjagtet oder andere Wesen? Und war das hier, hier an diesem Ort?“
Dem Raben mussten diese Fragen richtig gefallen, denn er entspannte seine Flügel, plusterte sich auf und krächzte: „Jawohl, jawohl hier war es. Und drei waren es. Na gut, ein Alter war dabei, aber die beiden anderen waren Krieger. Mich haben sie nicht erwischt, aber ihre Augen aufgekratzt habe ich. Mit den Händen auf den Augen sind sie geflohen diese Stümper. Ich kann sie einfach nicht ausstehen.“ „Du wirst uns alle noch mal ins Verderben stoßen.“, sprach Bembuddl. Dabei klang er sehr weinerlich. „Na und, sei es drum“, erwiderte Krämli, „Aber jetzt hab ich auch eine Frage. Warum interessiert dich das so? Bist du also doch ein Spion der malurischen Garde?“
Paro schluckte. Er befand sich wirklich in Gefahr. Von diesem kleinen Vogel vor ihm ging eine so große Aggressivität aus, dass Paro, auch wenn er viel größer war, Angst verspürte. Er durfte jetzt bloß keine falsche Bemerkung machen.
„Nein nein, verehrter Krämli. Wie kommt ihr bloß darauf, dass ich dieser malurischen Garde angehören würde.“ Dabei sprach Paro diesen Namen sehr angewidert aus, um zu zeigen, dass er auf alle Fälle gegen diese Männer eingestellt war. Dem Vogel schien das zu gefallen, dennoch gab er sein bedrohliches Gebärden noch nicht auf.
„Gib mir einen Beweis dafür, dass ich dir vertrauen kann.“, entgegnete Krämli.
Paro stand an einer Wegkreuzung. Nun gab es kein Zurück mehr. Er musste sich entscheiden, wie er antworten sollte. Verzweifelt suchte Paro nach einem Ausweg. Schließlich, als er schon einige Sekunden dagelegen und keinen Laut von sich gegeben hatte, wurde ihm klar, dass er sich schnell entscheiden musste, wollte er nicht noch sein letztes bisschen Glaubwürdigkeit verspielen. Womit könnte man den Raben am besten beeindrucken? Wer waren seine Gegner? - Die malurische Garde. Warum? - ...? Wem waren sie unterstellt? – Irgendjemandem. Vielleicht diente der aber auch wieder jemandem. Da fiel Paro die große Statue ein, die er in der Höhle gesehen hatte. Die Statue Belmors. Vielleicht dienten sie ihm, vielleicht diente ihm aber auch Krämli. Paro musste das Risiko eingehen, war es doch die einzige Alternative, die ihm auf die Schnelle einfiel. Mit einem Zittern in der Stimme sprach er aus: „Ich bin gegen die Anhänger Belmors.“
Diese Bemerkung zeigte sofortige Wirkung, wenn auch ein wenig anders, als Paro befürchtet hatte. Weder sprang der Rabe ihn an, noch wurde er von ihm fröhlich umarmt. Stattdessen wich er zwei Schritte zurück, wobei er Paro mit seinen Krallen wieder Schmerzen zufügte und blieb mitten in der Bewegung stehen, sodass ein Bein kurz über Paros Brust schwebte, während das andere sich noch tiefe in sein Fleisch bohrte. Mit einem kurzen Seitenblick erkannte Paro, dass sich Bembuddl mit seinen Hinterbeinen wieder in seiner Höhle verschwunden war und beängstigt auf Paro dreinschaute. Nein, nicht beängstigt. Entsetzt oder panisch waren bessere Beschreibungen für das, was Paro da in Bembuddls Augen sah. Der Maulwurf stammelte auch irgend etwas vor sich hin, was Paro aber nicht verstehen konnte. So richtete sich Paros Aufmerksamkeit wieder auf den Raben, der noch immer in seiner grotesken Haltung auf Paros Brust stand.
Schließlich begann auch Krämli wieder zu sprechen: „ Meinst du das ernst?“. Paro versuchte zu nicken, was aber kaum mehr danach aussah. „Gut.“, gab der Vogel langgezogen von sich. „Ich glaube dir. Keiner würde es wagen, Belmors Namen so, praktisch vor aller Ohren, auszusprechen.“ Paro wunderte sich darüber, dass Krämli `vor aller Ohren` gesagt hatte, wenn er die weitläufigen Wiesen um ihn herum betrachtete, denn hier war kein anderes Wesen aufzufinden.
Der Rabe sprach ununterbrochen weiter: „Und wenn das dann noch aus dem Mund eines Menschen kommt, muss es stimmen, denn ich habe das noch von keinem von eurer Seite gehört. Niemals, und selbst wenn es um euer Leben ginge,“, dabei beugte der Rabe seinen Kopf vor und sah Paro noch tiefer in die Augen, „würdet ihr Belmor verraten. Nie. Und wenn du wirklich ein Spion währst, würdest du nicht auf so eine plumpe Art und Weise versuchen, uns hinters Licht zu führen.“
Paro konnte nur erneut Nicken, saß ihm die Angst noch zu sehr im Nacken. Allerdings verbesserte sich sein unbehagliches Gefühl, auch wenn es nur ein wenig war. Krämli flatterte von ihm herunter neben Bembuddls Höhle, ließ Paro dabei aber nicht aus den Augen. Als dieser sich jedoch nicht rührte, blickte der Rabe auf den inzwischen zitternden Bembuddl, der immer noch mit beiden Hinterbeinen in der Höhle steckte. „He!“, krächzte Krämli. „Aufwachen. Ich glaube wir können ihm vertrauen.“
Mit vor Panik glimmenden Augen drehte auch der Maulwurf seinen Kopf und sah den Raben an. „Nun hör aber auf!“, schimpfte Krämli. Das ist doch nur ein Name. Nur ein Name.“ Als sich die Panik in Bembuddls Augen immer noch nicht legte begann Krämli umherzuhüpfen und loszuplappern: „Belmor, Belmor, der böse böse Belmor.“ „O bitte hör auf.“, stammelte Bembuddl und hielt sich dabei die Ohren zu.
„Ach Himmel, der ist aber auch zu nichts zu gebrauchen.“, sagte der Rabe vor sich hin. „Wenn es mal hart auf hart kommen wird, wird er wahrscheinlich der einzige sein, der überleben wird, aber nur weil er sich dann für alle Zeiten unter der Erde verkriechen wird.“ Der Maulwurf regte sich aber nicht auf die gehässigen Worte des Raben.
Der Rabe wandte seine Aufmerksamkeit seinem großen Gegenüber zu, der inzwischen seinen Oberkörper aufgerichtet hatte und in Begriff war, sich ganz zu erheben. „Wenn mir die Frage gestattet ist,“, begann Paro, „könntet ihr mir vielleicht sagen, was ihr mit mir vorhabt?“
„Ich denke wir sollten dich vor den Animalus bringen. Unsere Ratsversammlung.“
„Und was dann?“, fragte Paro.
„Dann sehen wir weiter. Sieh nicht zu weit in die Zukunft.“

Sie waren einige Zeit in irgendeine Richtung gegangen, die Paro nicht bestimmen konnte. Es sah hier überall gleich aus. Unterschiede waren kaum auszumachen. Der Rabe war vorneweg geflogen und Paro hatte Bembuddl, der sich inzwischen wieder erholt hatte, auf seine Schulter gesetzt, der sich dort krampfhaft versuchte festzuhalten. Denn Krämli legte ein wahnwitziges Tempo vor und Paro hatte Probleme damit, mit dem Raben Schritt zu halten. Nachdem sie so eine Ewigkeit die Eintönigkeit durchquert hatten, begann sich am Horizont ein Schemen zu bilden. Der Rabe hielt weiter hin direkt darauf zu und ohne sich zu fragen, ob das auch das Richtige war, folgte Paro ihm. Er war einfach zu dem Entschluss gekommen, das es besser wäre, dem Raben zu gehorchen. Auch wenn es für ihn nach wie vor ein wenig seltsam war, vor so einem kleinen Tier stramm zu stehen. Diesen Raben umgab einfach eine Aura, die eine solche charakterliche Stärke ausstrahlte, dass man ihr überhaupt nicht widerstehen konnte.
Je näher sie dem Schemen kamen, desto breiter und länger wurde er. Schließlich konnte Paro erkennen, was es war. Es war ein Wald. Anscheinend ein ziemlich großer, denn er erstreckte sich fast von einem Ende des Horizonts zum anderen. Über Paro krähte der Rabe. „Das ist Lyrdane, unsere Heimat!“
Paro war froh, als sie endlich den Waldrand erreichten, der aus vereinzelt stehenden Bäumen bestand. Denn obwohl Paro über eine gute Ausdauer verfügte, war er nach dem quälenden Ausdauermarsch sehr ausgelaugt. Der Schweiß rann ihm aus allen Poren und sein Haar klebte an seinem Gesicht. Die Sonne hatte sich weiter gedreht. Es musste nur noch ein paar Stunden dauern, bis sie vom Horizont verschlungen sein würde.
Paro lehnte sich an einen Stamm und sah in den Wald. Ungefähr zwanzig Meter lang standen vereinzelt Bäume. Je weiter es aber in den Wald hinein ging, desto dichter standen die Bäume zusammen. Paro blickte nach rechts und links. Überall dasselbe Bild. Es machte alles einen Eindruck wie, als wäre es aus einem Guss. Erst diese ewige Graslandschaft, nun dieser undurchdringliche Wald. Auf Paro wirkte das alles sehr eintönig. Auf seiner Schulter machte sich Bembuddl bemerkbar, der die ganze Zeit über keinen Laut von sich gegeben hatte: „ Beeile dich, dass du hineingehst. Sobald Nacht ist, findest du dich darin nicht mehr zurecht. Wir haben noch einen langen Weg vor uns.“ Als Paro das hörte, musste er die Augen verdrehen. War der Herweg nicht schon genug Strapaze gewesen? Aber es sollte wohl so sein. Paro sah auf. Die Blätter ein paar Meter weiter bildeten bereits ein dichtes Blätterdach, durch das nicht viel Licht hindurchfiel. Bembuddl hatte Recht. Er musste sich beeilen. Während Paro noch nach oben schaute, wurden einige Blätter auseinander gewirbelt und Krämli kam heruntergeschossen. Er setzte sich auf einen der zahlreichen Äste und rief: „Beeile dich, mein junger Freund. Wir haben nicht mehr viel Zeit.“ `Ich weiß, ich weiß.` dache Paro. `Das habe ich gerade schon mal gehört.` Laut sprach er das allerdings nicht aus, obwohl er bereits eine aufkochende Wut verspürte. So ließ er den Stamm des Baumes, an den er sich gelehnt hatte, los und sah noch einmal nach oben in den strahlend blauen Himmel.
Obwohl diese Welt doch fast genauso aussah wie seine eigene, verspürte Paro doch ein großes Maß an Heimweh. Wie gerne würde er jetzt einfach in sein Strohbett fallen oder mit Ari oder seinen Freunden Späße machen. Alles hatte sich verändert und Paro wusste nicht, wie er diesen Veränderungen Herr werden sollte. Er drehte sich noch einmal um, blickte auf die verloren wirkende Graslandschaft hinter ihm und schritt dann endlich in den Wald hinein.

Es war erstaunlich leicht voranzukommen. Hatte der Wald erst so undurchdringlich auf Paro gewirkt, war er jetzt doch eines besseren belehrt worden. Trotz seiner enormen Vielfalt an Büschen und Bäumen und trotzdem sie so eng zusammenstanden gab es doch kaum Probleme, sich einen Weg durch die Dickichte zu schlagen. Von oben durch das Blätterdach fielen überall Sonnenstrahlen, die diesem ganzen Ort eine Art Behaglichkeit verliehen. Unterstützt wurde dieser Eindruck durch die zahlreichen Tiere, die um Paro herum auftauchten, die aber allesamt friedlich dastanden. Was Paro aber etwas seltsam vorkam, war die Tatsache, dass sie ihn alle anstarrten. Eigentlich war Paro natürlich klar, warum sie das taten, schließlich musste er auf sie den gleichen Eindruck hinterlassen wie auf Bembuddl und Krämli zuvor. Aber dennoch schlich sich Unsicherheit in Paros Herz, ob er doch die richtige Wahl getroffen hatte.
Je weiter er fortging, desto dichter wurde das Moos unter Paros Füßen. Im Gegensatz zu den Aussagen von seinen beiden Bekannten ging die Sonne doch nicht so schnell unter wie befürchtet und Paro konnte noch eine etwas längere Zeit in gutem Tempo dem Raben folgen, der nun unter dem Blätterdach von Baumast zu Baumast flog. Als sich Paro einmal umdrehte, bemerkte er, dass viele Tiere, an denen er vorhin vorbeigegangen war, ihm nun in einem gewissen Abstand folgten. Manche flüsterten miteinander und Paro konnte nicht verstehen, was sie sagten, musste er sich doch genug auf seinen Weg und auf Krämli konzentrieren. Und wahrscheinlich auch die Tatsache, dass er mehrere Dutzend Augenpaare in seinem Rücken spürte, verstärkten Paros ungutes Gefühl noch mehr. Seine Umgebung hatte sich die ganze Zeit über kaum verändert. Erst jetzt begann eine merkliche Veränderung. Die Bäume wurden mit der Zeit dicker, älter und festlicher.
Paro wusste nicht warum, aber sie machten auf ihn einfach den Eindruck, als wären sie geschmückt. Das stimmte ja auch. Um die Stämme herum waren nämlich bunte Blumengestänge, in den wunderbarsten Farben, gezogen. Es sah herrlich aus, doch es wirkte irgendwie künstlich. Fiel es anfangs kaum auf, vermehrte sich dieser Eindruck aber, je weiter Paro ging. Ebenso veränderte sich die Luft um ihn herum. Sie war, ohne das er es bemerkt hätte, plötzlich voll von Blütenpollen, die ihn umschwebten und von der langsam untergehenden Sonne bestahlt wurden. Und da sah Paro auch, woher dieser ganze Blütenstaub kam. Am Boden stand eine ganze Reihe von Blumen, die allesamt die Pollen regelrecht ausspiehen. Von jeder Blume, die gerade Pollen ausspieh, flog auch gleich darauf eine Biene weg. Am Boden war ein regelrechtes Getümmel an Bienen und ausspeienden Blumen, die dem ganzen einen Eindruck gaben, als würde der Boden leben. Paro sah merklich verwirrt nach unten. Das musste Bembuddl bemerkt haben, denn er sprach Paro ins Ohr: „Sie begrüßen dich auf diese Weise. Jeder will dich sehen, nehme ich zumindest an. Dir wird bald erklärt werden, warum sie sich alle freuen.“ „Kannst du mir das nicht jetzt schon sagen?“, antwortete Paro. Bembuddl sagte darauf aber nur: „Warte ab. Du wirst schon sehen.“
Paro ging weiter durch das Gewühl aus umherschwirrenden Bienen und Blütenpollen. Als er sich einmal erneut umsah, erkannte er, dass sich die Zahl, der ihm folgenden Tiere, noch mal um einiges erhöht hatte und sie wuchs ständig weiter an. Nun gab es für Paro endgültig kein Zurück mehr.
Schließlich kam er zu einer dichten Hecke. Als er an sie herantrat öffnete sie sich und gab den Weg frei, der durch sie hindurch führte. Paro schien inzwischen kaum noch etwas zu beängstigen. Dieser ganz besondere Wahnsinn hatte einfach seine ganz eigene Dimension. Auch für die ihm nachfolgenden Tiere teilte sich die Hecke. Immer, sobald ein Tier hindurch war und kein weiteres folgte, schloss sich die lebendige Mauer auch sogleich wieder. Als Paro dem Treiben einige Momente zublickte, sah er auch den Grund für den Zauber. Erst waren es nur kurze Eindrücke von kleinen Pelzen gewesen. Nachdem er aber einige Augenblicke länger auf die wunderbare Hecke blickte, erkannte er, dass kleine Eichhörnchen durch die Hecke umherwuselten und an geflochtenen Grasflechten zogen, um die Spalten entstehen zu lassen. Das ständige umherrennen der kleinen Tiere bemerkte Paro erst jetzt, da die grüne Wand unheimlich dicht war. Aber die Wirkung, die mit Hilfe dieser Willkommensbegrüßung auf ihn einwirkte, war einfach unbeschreiblich. Jedes Lebewesen schien hier sein Berechtigung zu haben und auch seinen Nutzen. Ebenso schien jedes gleichermaßen berechtigt zu sein. Noch nie, nicht einmal in der großen Stadt zu Xelor, in Paros Heimatwelt, hatte er solch ein Treiben beobachtet, dass so perfekt aufeinander abgestimmt war.
Paro wandte sich wieder um. Hinter ihm erstreckte sich noch ein paar Meter lang Wald. Doch dann standen in einem relativ großem Umkreis keine Bäume mehr. Die Lichtung bildete einen fast symmetrischen Kreis und das überraschte Paro nun doch, hatte er doch damit gerechnet, dieser Wald würde nie enden.
War der Wald doch die ganze Zeit über ungeordnet und chaotisch in Bezug auf die Setzung der Bäume gewesen, war diese Stelle hier wirklich ungewöhnlich. Die Szenerie wurde von perfekt gesetzten Kiefern umrundet, alle im gleichen Abstand stehend. Dies gab dem Ganzen einen noch merkwürdigeren Eindruck, hatte der bisherige Wald doch aus Laubwald bestanden. Den Mittelpunkt des Kreises bildete ein von der untergehenden Sonne rötlich bestrahlter zerklüfteter Felsen. Er überragte die umstehenden Bäume um ein paar wenige Meter. Die Farbe war auch etwas ungewöhnlich, doch Paro wusste nicht warum. Der Stein war grau wie jeder andere, aber irgendwie glitzerte er ein wenig im Sonnenlicht. Jedenfalls glaubte Paro das. Auf den einzelnen Nischen des Felsens saßen viele Tiere, aber jedes von einer anderen Gestalt. Da gab es alle möglichen Arten von bunten Vögeln, auch Biber, Dachse und Mäuse waren da vertreten. Aber auch Raubtiere saßen dort. Genau neben ihren potenziellen Opfern. Aber anders als es Paro bekannt war, wurde der eine nicht gerade vom anderen gefressen, sondern sie verhielten sich ganz friedlich. Paro konnte sehen, dass auch ein Wolf unter den Tieren auf dem Felsen war. Das Tier, in das sich Paro bei Nacht verwandeln konnte. Sein Gelim. Er schien wohl eine Zeit lang so dagestanden zu haben, denn Bembuddl auf seiner Schulter schien schon ganz ungeduldig zu werden. Die Sonne war inzwischen zu einem flachen Halbkreis geworden, der sich den Bäumen, die sie zu verschlingen schienen, immer weiter näherte. Paro raffte sich auf. Er wurde allmählich immer nervöser. War er durch den Weg hierher wenigstens ein wenig abgelenkt worden, fiel ihm noch mehr als vorhin auf, wie sehr Aufhebens um ihn gemacht wurde. Dieser Eindruck bestätigte sich noch mehr, als er auf die Lichtung hinaustrat. Er blickte genau in die Sonne und wurde dabei leicht von ihr geblendet. Fast im selben Moment brach eine gespenstige Stille ein.
Das vorherig andauernde Wispern war fast vollkommen verstummt. Er schien von allen Seiten her angestarrt zu werden. Paro konnte das aufgrund des Zwielichts nicht genau erkennen, doch fühlte er die Blicke wie eine schleichende Bewegung, die seinen Rücken von oben nach unten und wieder zurück überlief. Die Umgebung wirkte wie eingefroren. Erst nach ein paar Augenblicken regte sich etwas in der Erstarrung. Die Tiere auf dem Felsen, ob groß oder klein, begannen auf der Stelle im Kreis zu laufen und Laute von sich zu geben. Der große Steinbrocken schien durch die Bewegungen von einem unheimlichen Eigenleben erfüllt zu sein.
Bembuddl auf Paros Schulter schien erstarrt zu sein.
Auch Paro war durch den seltsamen Anblick wie in einen magischen Bann geschlagen. Seine Augen waren auf den Wolf gerichtet, der auf einer der unteren Einbuchtungen des Felsens umherlief. Ein Gedanke funkte da durch Paros Kopf. Die Nacht. Bei Nacht verwandelte er sich doch auch in einen Wolf, wenn er nicht im Haus seiner Eltern war, das die magischen Energien nicht durchließ, die die Welt bei Nacht bevölkerten. Diese Nacht würde doch bald eintreten, wenn sie nicht sogar schon eingetreten war. Was würde dann mit ihm passieren? Paros Überlegungen wurden durch eine weitere Bewegung gestört, die sich am Felsen vollzog. Aus einem großen Schatten im Felsen kam ein Gestalt herausgetreten. Paro vermutete, dass es sich bei dem Schatten um eine Höhle handeln musste, die vermutlich durch einen Steinbrocken verdeckt war. Die Gestalt hatte sich weiter aus der Schwärze hervorgetan. Sie stand nun vor der Stelle, an der ein letzter Streifen roten Lichts auf den Felsen fiel. Der eine Fuß hob sich und trat auf die beleuchtete Stelle hinaus. Eine breite Tatze wurde sichtbar. Eine behaarte Tatze. Mit ein zwei weiteren Schritten kam die Gestalt noch mehr ins Licht. Der Schein erfasste die mächtige Gestalt eines Bären. Eines sehr mächtigen Bären. Er bewegte sich nur sehr schwerfällig. Paro erschien es, als müsse er sehr alt sein. Die massige Gestalt bewegte sich weiter aus dem Schatten heraus, bis sie vollends in rotes Licht getaucht war. Paro war von dem Anblick unglaublich fasziniert. Dieser Bär hatte eine noch größere Ausstrahlung als Krämli. Er verbreitete ein Gefühl unheimlicher Ruhe, aber auch Stolz und Selbstsicherheit.
Dies musste, nein, dies konnte nur der Anführer der Tiere sein. Die Sonne hatte nun den Spitzen den oberen Bäume erreicht und wurde in letzte kurze Streifen geschnitten. Nichts weiter geschah. Der Bär blieb einige Momente noch in einer anmutigen Haltung stehen und blickte Paro an. Diesem fiel nun auf, wie einsam und verlassen er am Rand der Lichtung stand. Im Umkreis von zehn Metern war er das einzige Lebewesen. Paro riss sich vom Anblick des Bären los und blickte sehnsüchtig nach den vielen kleinen Sonnen, in die die Baumwipfel ihre große Schwester geschnitten hatten. Nach einigen Augenblicken waren aber auch diese letzten Streifen untergegangen. Der Platz und somit auch der Bär wurden von Dunkelheit eingenommen. Paro spürte an sich allerdings keine Veränderung. Er blieb derselbe. Es setzte keine Verwandlung ein.
Aber fast im selben Moment mit dem Untergang der Sonne geschah etwas. Aus den Höhen einiger Bäume rieselten Tausende kleiner Leuchtpunkte. Innerhalb weniger Momente war der Platz überzogen mit einem Schwirren und Surren, das die gesamte Nacht auszufüllen schien. Die Leuchtpunkte umschwirrten die Lichtung, den Felsen, insbesondere den Bären und auch Paro. Was er anfangs als etwas merkwürdig empfand, wandelte sich bald in Wohlempfinden. In ihm wuchs das Gefühl von überschwenglichem Glück. Die Umgebung wurde durch die Leuchtpunkte so weit erhellt, dass Paro auch wieder Einzelheiten erkennen konnte. Nun sah er auch, was die kleinen Leuchtpunkte waren (und eigentlich hatte er das schon vermutet). Es waren Glühwürmchen. Inzwischen musste ihre Anzahl auf ein paar Millionen angestiegen sein.
„Komm her!“, sagte plötzlich eine tiefe Stimme. Paro wurde wie aus einer Trance gerissen. Er brauchte einige Augenblicke, um sich neu zu orientieren, bis er merkte, dass er sich in seiner geistigen Abwesenheit vom Felsen abgewandt hatte.
„Komm her zu mir!“, wiederholte die Stimme. Sie klang nach einer ungeheuren Würde, die Paro in einem solchen Ausmaß zuvor noch nie erlebt hatte. Ohne sein Zutun bewegten ihn seine Beine auf den Bären zu und blieben erst wieder stehen, als sie nur noch wenige Meter voneinander getrennt waren. Der Bär stand auf einem Sockel aus Felsgestein, der eine Schwelle von ungefähr einem Meter bildete.
„So, es scheint wohl wahr zu sein, was mir berichtet wurde. Ein Menschenkind hat sich in unser Gebiet verirrt. Oder sollte ich besser sagen, es hat uns gesucht?“ Der Bär machte einen weiteren Schritt an Paro heran, so dass Paro nun noch mehr nach oben blicken musste, um das Gesicht seines Gegenübers zu sehen. „Was machst du hier?“, fragte das große Wesen. „Ich, ich..“, begann Paro zu stammeln. Er überlegte, doch auf die Schnelle kam er auf keine Antwort. Weshalb war er hier? Es war inzwischen so viel passiert, dass er sich nur schwer an sein Anliegen erinnern konnte. Doch da fiel es ihm wieder ein. Sein Großvater. „Ich ... ich suche meinen Großvater.“ „Deinen Großvater suchst du?“, antwortete der Bär. Seine Stimme klang leicht irritiert, doch Paro glaubte, dass er sich das nur einbildete. „Warum suchst du ihn hier?“ „Ich bin ihm gefolgt. Durch ein großes Loch in der Wand.“ Paro konnte nicht anders als wahr zu antworten. Seine Sinne waren verwirrt. Es stellte sich für ihn gar nicht die Frage, ob er lügen sollte oder nicht. Der Bär war sichtlich überrascht, aber auch nur für einen kurzen Moment. „So ist das also.“, murmelte dieser vor sich hin. „Wie sah das dort aus? Dort, wo du durch das Loch in der Wand gegangen bist?“ Wieder musste Paro antworten, ohne überhaupt nachzudenken. „Das war in einer großen Höhle, einer riesigen Höhle. Da war eine große Statue. In Gestalt ähnlich dem großen Herrscher Belmor.“ Gemurmel ging um Paro umher. Doch der Bär sprach sogleich weiter und das, wie es Paro erschien, etwas schärfer als zuvor: „Groß nennst du ihn. Warum?“ Und wieder ohne zu Überlegen antwortete Paro: „Groß an Hass, groß an Macht, groß an Schrecken.“
Der Bär atmete hörbar durch, drehte sich um und ging in die Höhle zurück, aus der er anfangs gekommen war. Wieder machten sich Paros Beine ohne seine direkte Einwilligung selbständig. Sie folgten dem Tier hinein mitten in die Finsternis, die den Eingang einer Höhle bildete. Unvergleichlich war das Gefühl, als Paro den ersten Schritt in diese Welt aus Dunkelheit tat, vergleichbar nur mit dem Loch, durch das er hierher gelangt war. Für einige Augenblicke wurde er wieder vollständig von Dunkelheit umrahmt, doch kurz nach ihm schwirrten auch die kleinen Glühwürmchen herein und gaben dem umgebenden Felsen seine ursprüngliche Form wieder, die durch die Dunkelheit verzehrt worden war. Kaum umkreisten sie Paros Körper, schon breitete sich wieder das wohlig anfühlende Glück in ihm aus, allerdings dieses mal nicht so stark wie zuvor. Vor Paro lag ein Gang, gerade so breit, dass die massige Gestalt des Bären darin laufen konnte, und ein paar Meter lang. Paro machte sich auf, dem Tier vor ihm zu folgen. Am Ende des Ganges befand sich eine kleine Höhle. Unweigerlich musste Paro an das große Vorbild denken, dass er erst vor etwas weniger als einem Tag gesehen hatte.
Die Höhle maß etwa zwei Meter in die Höhe und man mochte wohl fünf Schritt brauchen, um sie zu durchschreiten. Der Bär hatte sich an der Wand, genau gegenüber des Eingangs niedergelassen und betrachtete den Ankömmling mit durchdringenden Augen, die, Paro wusste einfach nicht warum, eine ungeheure Weisheit zeigten. Paro blieb hingegen am Eingang stehen, unweigerlich Distanz haltend.
Der Bär richtete sich leicht auf und begann wieder zu sprechen: „Ich begrüße dich, junger Mensch. Du kannst stolz auf dich sein. Du bist der Erste, der diese Halle betritt. Der erste außer uns.“ Als Halle wollte Paro dieses runde Ding, in dem er hier stand, nun gerade nicht bezeichnen, aber zu widersprechen, wäre nun wohl das dümmste gewesen, was Paro hätte machen können.
„Wie ist dein Name, kleiner Mensch?“, fragte der Bär wieder. Trotz einem gewissen Unwohlsein, dass Paro verspürte und einer nicht zu wiederleugnenden Angst, gab Paro seine Antwort fest und direkt: „Mein Mutter nannte mich Paro.“
Nachdem er das gesagt hatte, wartete er auf eine Regung des Bären, die ihm vielleicht verraten hätte, wie er sich weiter verhalten könnte, aber der Bär zeigte keinerlei Anzeichen einer Regung. Erst einige Momente später sprach er wieder: „Hmm. Paro heißt du also. Du sagst die Wahrheit über dich und dein Anliegen, dass weiß ich. So werde ich dir nun auch meinen Namen sagen. Ich nenne mich Kylmorrian. Ich bin der Anführer der Tiere dieses Waldes, musst du wissen. Du sagst, du kommst aus einem Loch, durch das du hierher gefallen bist.“ Paro nickte nur. „Und davor warst du in einer großen Höhle. Mit einer Statue, die alles überragt?“ Paro nickte wieder und antwortete: „Ja. Sie hatte ihre Hände ausgestreckt. Auf ihnen lag ein riesiges Schwert. Genau über einem Altar. Mein Großvater lag darauf.“ In Paro gelangten die Gedanken an das zurückliegende wieder an die Oberfläche, genau wie Licht, das durch eine verhangene Wolkendecke wieder die ersten Anzeichen von Leben brachte. „Er ... er war gestorben und er lag da und...“. So seltsam es Paro vorkam, die Gedanken an den Tod seines Großvaters und an dieses Ritual, ließen ihn erschauern und mit einem Male fiel viel von der Furcht ab, die sein Herz die ganze Zeit über belastet hatte. Dennoch war es ihm nicht möglich weiterzusprechen.
„Weißt du, was hier passiert, Paro?“, begann der Bär wieder. „Weißt du was mit dieser Welt, auf der wir wandeln geschieht?“ „Nein.“, stammelte Paro, wobei er sich immer noch nicht vollständig in der Gewalt hatte. Es hatte sich eine Welt vor ihm aufgetan, die alle Schrecken, die jemand auch nur erahnen konnte, in sich vereinigte. Wenn man erst einmal ein Teil dieser Welt war, war es sehr schwer, den gierigen Fängen dieses hinterhältigen Wesens wieder zu entkommen. Doch Paro schaffte es und so wiederholte er seine Antwort, diesmal schon viel gefestigter: „Nein, ich ... ich weiß es nicht.“
Kylmorrian holte tief Luft und richtete sich dabei noch mehr auf, bis er schließlich anfing: „Dieses dunkel Loch, durch das du zu uns gekommen bist,“ Kylmorrian wartete einige Sekunden, „durch das sind wir alle hierher gekommen. Besser gesagt, durch dieses Loch sind wir alle hierher gebracht worden. Wir wurden dazu gezwungen. Was hast du noch gesehen?“
„Da waren bunte Streifen, die durch die Luft zogen. Der Magier hat was damit zu tun, irgendetwas böses. Doch weiß ich nicht was.“
Kylmorrian antwortete sofort: „Woher solltest du auch. Bevor wir hierher kamen, hatten wir auch keine Ahnung von den Absichten dieser teuflischen Bande, denen wir vertraut hatten.“ „Wen meint Ihr?“, fragte Paro. „Den Magier. Nicht nur den, der dich hierher gebracht hat, sondern auch unsere. Paro, das was du da gesehen hast in dieser großen Höhle, das passierte nicht zum ersten Mal mit deinem Großvater, sondern schon seit Jahrhunderten.“ Paro stockte. Dass sein Großvater wohl nicht der einzige gewesen war, dem dies zugestoßen war, war ihm irgendwie schon klar gewesen. Aber dass dieses abscheuliche Verbrechen gar schon mehrere Jahrhunderte andauerte, das konnte er sich nicht vorstellen. „Das heißt,“, begann Paro wieder, „das ihr alle hier aus meiner, aus unserer Welt stammt? Dass ihr alle ... mehrere hundert Jahre alt seid?“ Paro wagt sich das gar nicht vorzustellen. Dann lag er mit seiner Vermutung, die er anfangs über Bembuddl gehabt hatte, vielleicht doch gar nicht mal so daneben. Dann konnte dieser genau so gut sein Ururgroßvater sein oder was auch immer. Doch Kylmorrian verwischte seine Gedanken gleich wieder, als er antwortete: „Nein nein, so ist es nicht. Es stimmt, das wir alle hier, die dich umgeben, aus deiner Welt kommen. Sie war auch mal unsere Heimat. Doch wir wurden hierher gezwungen, von einer Macht, deren Namen ich nur ungern in den Mund nehme.“ Kylmorrian hielt kurz inne. Er schien mit sich selbst zu ringen, doch direkte äußerliche Anzeichen dafür gab es nicht. „Wir, die Tiere dieses Waldes bilden eine Gemeinschaft, die darauf beruht, dass uns alle dasselbe Schicksal miteinander verbindet. Wir alle wurden hergebracht, um einem Herrscher zu nützen, in seinem abgründigen Plan. Ich bin der Anführer, die die Unglückseligen, denen du begegnet bist, zu führen.“ „Wenn Ihr mir die Frage erlaubt: Von wem wurdet ihr hierher gebracht. Warum?“ „Von dem Häschern des Herrschers dieser Welt. Keines anderen als Delingdor. Seiner Gefolgschaft gab er Anweisungen, uns zu fangen. Der Grund ist den meisten von uns nicht bekannt, aber ich glaube es zu wissen. Sie benötigen unsere Kraft. Die Kraft, die unsere Heimatwelt durchströmt, durch die unsere Magier zaubern können und wir imstande sind, uns in eine andere Gestalt zu verwandeln.“ Paro verschlug es fast die Sprache. Dennoch fragte er: „Wozu?“ „Um den schrecklichsten Herrscher auferstehen zu lassen, den die Gezeiten jemals in ihren Armen geboren haben. Belmor.“
Paro schrak zusammen. Belmor. „Woher meint ihr das zu wissen?“
„Ich kann es nicht beweisen, aber ich vertraue meiner Eingebung. Die Häscher, die Delingdor gehorchen, haben einen gewissen Gegenstand an ihren Rüstungen. Ein Symbol, dass eine gewisse Ähnlichkeit mit dem vorderzeitigen Zeichen Belmors aufweist. Sieh her.“ Eine Tatze des Bären hob sich und wischte den mit Sand bedeckten Boden der Höhle glatt. Sodann zeichnete die Tatze einige Linien auf, die ineinander liefen. Zusammen ergaben sie die Umrisslinien einer großen Flügelschwinge. „Das ist das Zeichen. Daran kannst du sie erkennen.“ „Woher wisst Ihr soviel?“, konnte Paro nur antworten. „Ich war ein Gelehrter in der alten Welt. Einer der höchsten Würdenträger, bevor ich von meinen Schülern verraten wurde. Ich habe die Sterne gedeutet und sie ihren Bahnen zugeordnet. Doch nichts half mir, die Aggressionen in meinen Schülern zu fühlen, die direkt gegen mich gerichtet waren. Sie alle dienen nun Delingdor.“ Hinter Paros Stirn arbeitete es. „Also, ihr wart in unsere Welt ein Gelehrter, also in menschlicher Form? Warum seid Ihr den nun in tierischer Form. Ich habe schon selbst an mir gemerkt, dass diese Welt anders ist als unsere. Ich kann mich nicht in mein Gelim verwandeln. Warum seid Ihr kein Mensch?“ Kylmorrian sah Paro durchdringend an. „Weil wir alle tot sind.“

Paro schwindelte es. Doch eigentlich war es klar, schon immer klar gewesen. Sie alle hier, alle Tiere, die dort draußen auf ihn warteten, mussten auf demselben Weg hierher gelangt sein wie er und sein Großvater. Und was war mit seinem Großvater gewesen? Er war auch tot gewesen bevor er durch den Magier wiedererweckt worden war. Genauso musste es allen hier ergangen sein. Aber wenn sie alle noch lebten, dann...
„Heißt dass, das man hier, in dieser Welt nicht altert?“ „Nein, dass heißt es nicht.“, antwortete Kylmorrian ruhig. „Wir leben nur etwas länger und zwar solange, bis sie unsere gesamte Energie, die uns durchströmt, abgenommen haben. Du musst wissen Paro, dass uns jeden Augenblick Energie abgenommen wird, die uns nie wieder durchströmen wird. Die meiste Kraft haben wir durch die Magier, die uns hierher brachten, bekommen. Wir fungieren sozusagen als lebende Transportmittel. Wir bringen die Energie hierher, das Tara. Da wir ja mehr Tara in unserem Körper haben, je älter wir sind, nehmen sie nur die alten Leute. Die, die schon gestorben sind. Alle, die du hier gesehen hast, sind tot Paro. Eigentlich sind wir nur Fässer, die man andauernd anzapft, bis sie leer sind.“ „Ich, ich habe aber gehört, das das Tara abnimmt. Ab einem bestimmten Alter.“ Der Bär schüttelte den Kopf. Dann hat man dir Unsinn erzählt Paro. Das stimmt nicht.“ Das jedoch hielt Paro für Unsinn, war es doch sein sterbender Großvater gewesen, der ihm das erzählt hatte.
„Und was passiert dann mit euch, nachdem ihr hier ankommt?“, fragte Paro stotternd.
„Die Hülle unserer Körper schrumpfen, bis wir nur noch kleine Lebensfunken sind. Das sind diese, die du vorhin gesehen hast.“ „Die Glühwürmchen sind all die Verstorbenen?“ „Jawohl, dass sind sie.“
„Aber, dass ... dass sind ja Millionen. Das bedeutet ja, dass dieser Herrscher schon riesige Mengen von unserer Energie angesammelt hat.“
„Genau das bedeutet das. Die Auferstehung von Belmor kann nicht mehr lange dauern. Bald gibt es keine Möglichkeit mehr, wie man Belmor aufhalten kann. Gestärkt durch die magischen Energien wird er unverwundbar sein. Das, was man uns als Kindern erzählt hat, um uns Angst einzujagen, wird bald Wirklichkeit.“
Paro war überwältigt. So viele Informationen waren für ihn beinahe unmöglich komplett aufzunehmen. Wenn die Bedrohung so kurz bevorstand, warum wurde dann nichts dagegen unternommen? Warum erzählte Kylmorrian ihm das alles? Genau das fragte er ihn auch sogleich. Der Bär schaute Paro wieder auf diese durchdringende Art an, wie er es schon einige Male getan hatte. Dann richtete sich der gewaltige Körper auf und machte zwei Schritte auf Paro zu, bis die Gesichter ganz dicht beieinander waren, so dass Paro den Atem des Riesen an der Stirn spüren konnte. „Weil du unsere Retter bist, Paro. Ich habe es in den Sternen gelesen.“
Das brachte Paro nun vollends zum Umkippen und er viel rücklings gegen die Wand, an der er während des Gesprächs gestanden hatte, und rutschte zum Boden herab.. Bembuddl, der bis dahin auf seiner Schulter gesessen hatte, fiel dabei seitlings herunter und gab einen Schmerzenslaut von sich. Kylmorrian sah ein bisschen überrascht auf den am Boden Liegenden, schaute aber gleich darauf wieder auf und sagte : „Du bist auserwählt. Es steht dort oben, dass ein Mensch, der hierher kommt und nicht böser Gesinnung ist, für die gerechte Sache kämpfen wird. Paro, du musst uns helfen.“ „Aber, aber,“, sprudelte es aus Paro heraus, „warum macht ihr den nichts dagegen. Ihr seid doch bestimmt Tausende. Ihr könnt doch auch was machen, irgendwas.“ „Du weist nicht, wie groß die Armee von Delingdor ist. Wir können nichts dagegen tun.“ Der Bär wandte sich von Paro ab und schlürfte durch die kleine Höhle, bis er seinen Kopf erneut wieder zu Paro drehte. „Wir hatte es doch schon versucht. Aber das Vorhaben scheiterte. An diesem Tag nahm die Zahl der blauen Lichtpunkte um einige Hundert zu. Als Strafe mussten wir unsere alten Namen ablegen.“
„Eure Namen?“, fragte Paro, während er seine Knie anzog und dicht am Körper hielt. „Ja, unsere Name. Das, was uns noch mit unserer alten Welt verband sollten wir abgeben. Ich bin der einzige, der sich dem nicht angeschlossen hat und sie machen auch nichts dagegen. Ich bin ihnen sowieso egal, weil sie denken, dass von mir keine Gefahr mehr ausgeht. Womit sie größtenteils auch Recht haben. Sie lassen uns auch unseren Versammlungsort hier. Unserer letzte Bastion.“
„Ja, aber warum glaubt ihr denn dann, dass ich das alleine schaffen soll? Als einziger.“
„Alleine kann man eine Armee auch umgehen, zu Hunderten geht das aber nicht.“ „Aber, ihr müsst mir doch auch irgendwie helfen. Ich ... nein, ich kann das nicht.“ „Doch, du kannst das. Ich sehe es in deinen Augen. Es steckt große Kraft in dir.“ Paro erinnerte sich, dass er das von seinem Großvater an seinem Sterbebett bereits schon mal gehört hatte, war sich damals aber niemals bewusst gewesen, was das einmal für ihn bedeuten sollte.
Kylmorrian sah anscheinend, dass Paro innerlich mit sich kämpfte. „Es können dich ja welche von uns begleiten. Na, wie wäre es denn mit dir, Bembuddl?“ Das nackte Tier zu Paros Füßen gab einen kleinen entsetzten Schrei los. „Was? Nein. Nein. Das kann doch nicht Euer Ernst sein Kylmorrian?“ „Warum nicht?“, entgegnete der Bär. „Jeder muss seinen Teil dazu beitragen. Willst du etwa kampflos sterben? Du hast dich schon damals verkrochen. Du bist uns was schuldig, findest du nicht? Sterben muss schließlich jeder einmal.“ „Ja, aber es kommt immerhin darauf an, auf welche Weise, findet Ihr nicht.“ „Also,“, begann Kylmorrian, “dann ist es beschlossene Sache.“ Von Bembuddl hörte man ein erneutes Aufstöhnen. Doch bevor er erneut etwas entgegnen konnte, fragte Paro sofort: „Ihr habt mir aber immer noch nicht erklärt, warum hier keine Menschen sind. Ich habe zwar von einer Stadt gehört, in der Menschen leben, aber ich verstehe die Zusammenhänge noch nicht.“
„Es ist so. Wir alle sind magisch mit Delingdor verbunden. Nicht direkt körperlich, ich weiß auch nicht genau wie, aber das ist auch egal. Auf jeden Fall müssen wir in der Form sein, in der wir am besten unsere Energien abgeben können. Und das ist nun mal in unserer tierischen Gelim. Wir wurden mit einem Bannspruch belegt, der es uns unmöglich macht, unsere Gestalt wieder zu ändern. Du hast dich nicht verwandelt, weil du nicht als Energiequelle gekennzeichnet wurdest. Und weil in dieser Welt keine Energien wandeln, ist es auch völlig unmöglich für dich, sie zu nutzen und dich in dein Gelim zu verwandeln.“
Paro war in sich versunken. Alle seiner Gedanken kreisten um das, was er gerade gehört hatte. Alles war so schnell gegangen, sodass es sehr schwer für ihn war, alles Gehörte auch in den richtigen Zusammenhang zubringen.
„Warum erzählt Ihr mir das alles?“
„Du bist auserwählt Paro. So lächerlich das im Moment für dich auch klingen mag, aber es ist so. Keiner kann deine Aufgabe übernehmen. Wir können dir trotzdem helfen und ich bin sicher das selbst Bembuddl hier für dich da sein wird.“
„Das ging jetzt alles so schnell. So unübersichtlich.“
„Ich weiß,“, entgegnete Kylmorrian, „doch wie du weißt läuft uns die Zeit davon. Unsere Lebensgeister wenden sich alle dem Ende zu und der Taravorrat, den Delingdor ansammelt, ist bald vollständig. Wir müssen uns an jede kleinste Möglickeit der Rettung hängen.“
`An jede kleinste Möglichkeit der Rettung?` Bedeutete dass mit Paro einfach so gehandhabt wurde, als wäre er eine einfache Möglichkeit? Eine unter zwar wenigen, aber dennoch unter anderen? So sprach Paro: „Bedeutet das, dass es noch andere Versuche gibt, die man unternehmen könnte.“
„Ja, aber die sind noch aussichtsloser.“, antwortete Kylmorrian. „Sie würden zielgerichtet ins Verderben führen. Du aber hast eine wirklich reelle Chance. Vertraue mir!“ Klymorrians Stimme schien leicht verändert. Sie bat nicht mehr. Sie forderte Paro nur noch. Diese strenge war Paro bisher an dem Bären nicht direkt aufgefallen. Aber irgendwie hatte er schon gespürt, dass man Kylmorrian nichts entgegenbringen konnte. Er musste wohl ein mächtiger Gelehrter in der Heimatwelt gewesen sein.
Kurze Zeit verblieb die Höhle in Angst machender Stille. Vor Paro erstreckte sich seine Aufgabe, die er zwar nicht übernehmen wollte, aber musste. Kylmorrian ließ da gar keine Abweichung auch nur aufkeimen. Selbst einen Gedanken an Flucht verwarf Paro bald wieder. Wohin sollte er fliehen. Er kannte hier schließlich niemanden. Ihm war diese Welt mit ihren Bräuchen auch nicht bekannt. Selbst wenn er weggehen sollte und ihn auch keiner aufhalten würde, hatte er kaum eine Chance durchzukommen.
Als sich Paro seine Optionen so vor Augen hielt wurde ihm seine Ausweglosigkeit nur noch mehr bewusst. Aber, wenn er eines gelernt hatte, und das war ausgerechnet auch noch von seinem Großvater aus geschehen, dann war es das, das er wusste, wann er was zu tun hatte. Und wenn er sich das vor Augen hielt, was er bisher über diese Welt gehört und gesehen hatte, dann sprach er sich doch auch noch ein paar Chancen zu, so klein sie auch waren. Wenn er aussah, wie seine Gegner, dann war es ihm auch möglich in diese Stadt, von der er durch Krämli, den Raben, gehört hatte, einzudringen. Aber was sollte er denn überhaupt genau tun? Diese Frage stellte er dem Bären.
„Du hast dich also dafür entschieden?“, fragte Kylmorrian. Paro nickte. Von Bembuddls Seite hörte man erneutes Stöhnen. Der Bär atmete erleichtert aus und sagte dann weiter: „Gut. Ich danke dir für deine Entscheidung. Was du tun musst, fragst du? Nun, dringe in die Stadt ein, die sich hier in dieser Gegend befindet. Das ist die Hauptstadt Delingdors Reiches. Er selbst befindet sich auch dort. Finde heraus, wie er die Energien auffängt und versuche, sein Werk unschädlich zu machen.“ „Ja, aber wie?“ „Das weiß ich auch nicht. Aber sei unbesorgt. Ich las auch in den Sternen, dass dir irgendetwas passieren wird, dass es dir ermöglichen wird, das zu schaffen.“
Paro wollte sich umdrehen, aber eine Frage hielt ihn zurück: „Delingdor. Ihr wisst soviel über ihn. Aber wenn er euch doch nur als Übertragungsmittel ansieht, wie kamt ihr dann dazu, ihn so gut kennen zulernen.“ Der Bär wandte sich leicht ab. „Kennen gelernt habe ich ihn noch nie persönlich. Auch gesehen habe ich ihn noch nie. Aber ich habe schon vieles gehört, vor allem von seinen Gefolgsleuten.“
Paro hörte Flügelschlagen und zwar sehr dicht hinter ihm. Er drehte sich in den Gang um, der die Höhle mit der Außenwelt verband. Erst konnte er nichts erkennen, doch dann sah er ein kleines schwarzes Etwas, dass auf sie zuflog. Es war der Rabe.
Auch Kylmorrian sah auf und schließlich erkannte er den Eindringling.
„Ah, Krämli, Ihr seid es.“, begrüßte der Bär den Raben. „Ich erklärte gerade unserem kleinen Freund hier unsere Lage.“
„Seid ruhig!“, krähte Krämli. Er schien sehr aufgeregt zu sein. „Ich war draußen und hab die Gegend abgesucht. Wir bekommen Besuch. Die malurische Garde kommt. Auf fliegenden Kreaturen, die selbst ich noch nie gesehen habe.“
Kylmorrian spritze auf. „Was?“, schrie er. Er schaute um sich, so als suchte er etwas. Schließlich wandte er sich wieder an den Raben. „Krämli, alter Freund. Ich brauche eure Hilfe. Beschütze diesen Jungen hier, Paro ist sein Name.“ „Ich weiß, ich kenne ...“, antwortete der Rabe, doch er kam nicht dazu, fertig zu sprehen, denn er wurde sofort durch eine Bewegung Kylmorrians unterbrochen. „Beschütze ihn. Er ist unsere letzte Hoffnung. Euch vertraue ich. Auch dir Bembuddl. Und du Paro, du wirst es schaffen. Vergisse nicht, ich habe es in den Sternen gesehen und die lügen nie. Du kannst mir vertrauen.“
Mit diesen Worten setzte sich der Bärenleib in Bewegung und wetzte regelrecht durch den engen Gang, dem Ausgang entgegen. Paro folgte in einigen Schritten Abstand. Als er nach draußen blickte, blieb ihm beinahe das Herz stehen.

Ende Teil 2