Das Vermächtnis
Dunkelheit umgab sie, allumschließende Dunkelheit. Sie bewegte keinen ihrer Arme, keines ihrer Beine, nicht ihren Kopf und auch nicht ihre Haare. Ihr Herz schlug nicht.
Sie lag da, einsam und verlassen, in dieser allumfassenden Schwärze. So, als wäre sie in den Tiefen des Winters eingefroren worden und noch niemand hätte sich ihrer erbarmt und sie aus ihrem eisigen Schlaf befreit. Aber sie schlief nicht. Auch der Tod hatte sich ihrer nicht bemächtigt. Sie lag einfach so da und hatte die Augen geschlossen vor diesem unsagbarem Nichts, was sich um sie herum befand.
In einem dieser unzähligen Augenblicke aber, in denen sie so dalag und in dem sie nie etwas spürte, nie etwas fühlte, da begann ihr Herz wieder zu schlagen.
Und schließlich, nach Äonen der Finsternis und unzähligen Stunden der Einsamkeit, da bewegte sie zaghaft einen ihrer Finger und nach und nach all ihre anderen Gliedmaßen und endlich öffnete sie ihre Augen. Diese wundeschönen Augen, die so vieles schon gesehen hatten, die sich an Dinge erinnerten, von denen nie ein Wesen zu Träumen wagen würde.
Sie wurden geöffnet und schauten in die Finsternis, die den Körper umgab. So lag ihr Körper auch noch lange Zeit da, sich nicht an die Geschehnisse erinnernd, die ihn in diese Lage gebracht hatten.
Sie blinzelte.
Mit diesem zaghaften Blinzeln beschwor sie unwissend die Mächte der neuen Welt, ihr Kraft zu geben und sie zu stärken und diese taten es auch. Neue Stärke durchfloss den Körper und sie begann sich zu bewegen. Stärker und kräftiger als zuvor und von einem Willen beseelt, dem kein anderer Wille gewachsen war. Er durchströmte ihren Geist und nach einer weiteren, wie unendlich wirkenden, Zeitspanne, hob sie ihren Kopf und sah in ihre Umgebung. Sie schwebte. Genau, wie schon die Jahrhunderte zuvor.
Sie sah einen Lichtschimmer vor sich und mit der unbändigen Kraft, die ihr der unsagbare Wille gab, bewegte sie sich auf den Lichtschimmer zu, unwissend der Dinge, die sie dort erwarteten.
Schließlich kam sie an. Sie tauchte ein in dieses Licht. Mit Freude, die jede Sehne ihres Körpers durchfuhr, spürte sie zum erstenmal seit langer Zeit wieder. Sie genoss es in vollen Zügen. Ihr Körper durchdrang den Lichtschimmer in wenigen Augenblicken und sie fühlte, dass sie wieder zuhause war, dort, wo sie sich schon immer geweilt hatte. Doch wusste sie nicht mehr, wo es sich befand, dieses Zuhause.
Sie bewegte sich immer stärker und heftiger und merkte es nun noch deutlicher. Sie hatte die Unendlichkeit besiegt. Mit einem Ruck öffnete sie ihre Augen und sah um sich.
Dinge bewegte sich vor ihren Augen. Sie war in helles Blau getaucht. Ein grüner Schatten ragte zu ihrer Rechten empor.
Sie fühlte mit ihren Händen und spürte etwas Hartes unter den Fingern. Sie blinzelte erneut. Langsam hob sie sich empor, gestützt auf ihre Unterarme. Etwas kam heran aus dem Blauen vor ihr. Etwas großes, das sich schnell bewegte. Doch kurz bevor es sie erreicht hatte, drehte es ab und wandte sich nach links. Ein gelbes Auge fixierte sie, doch augenblicklich war auch dieses wieder verschwunden.
Sie stemmte sich noch weiter hoch und blickte dabei in die Höhe. Etwas über ihr flimmerte. Sie erhob sich weiter und griff mit ihrer Rechten danach und durchdrang es. Die Teile ihrer Hand, die das Schimmern durchdrungen hatten, fühlten sich leicht kalt an.
Sie folgte mit ihrer anderen Hand und schließlich schwebte ihr ganzer Körper nach oben. Dabei schloss sie ihre Augen. Sie gelangte durch das Flimmern genauso hindurch, wie durch den Lichtschein kurz zuvor. Als ihr ganzer Körper hindurch war, begann sie leicht zu frieren. Dennoch frohlockte sie, denn es war ein Gefühl, das sie unendlich lange Zeit hatte entbehren müssen.
Sie öffnete ihre Augen erneut. Sie sah viele Dinge, die viel größer waren als sie selbst. Die meisten davon waren grün und schienen nur in die Höhe zu wollen. Über ihr erstreckte sich wieder etwas Blaues, nur viel heller als gerade noch dort unten. Weiße Schlieren zogen da oben entlang und vermengten sich zu Traumbildern, solche, die sie wie all die anderen Dinge nicht mehr gehabt hatte.
Sie setzte einen Fuß nach dem anderen vor sich und bewegte sich somit langsam, aber sicher, grünen Stangen entgegen, die in der Nähe vor ihr standen. Sie lief weiter darauf zu bis sie sie erreichte. Sie zog sich an ihnen hoch und setzte sich auf das grüne Etwas unter ihr. Sie drehte sich um und sah auf den geheimnisvollen Ort hinunter, durch den sie gerade gekommen war.
Und da geschah es. Sie sah sich. Und mit einem Schlag kamen alle Erinnerungen zurück. Mit langsamen Bewegungen ging sie mit ihrer rechten Hand über ihr Gesicht und durchfuhr ihr Haar. Sie beugte sich noch etwas weiter vor. Soweit, bis schließlich ihre Flügelspitzen hinter ihr emporragten.
„Schön bist du.“, sagte jemand hinter ihr. Sie erinnerte sich sofort daran, wer es war. Ihr Kopf drehte sich herum und ihr Körper erhob sich und mit einem freudigen Lächeln sah sie auf ihr Gegenüber. Die Gestalt vor ihr sagte: „Schön wie immer, Lindenschein.“
„Ich freue mich dich wiederzusehen, Nebeltau.“, antwortete Lindenschein. Endlich hörte sie sich selbst wieder. Ihre eigene Stimme. Sie hörte das, was sie immer gewesen war, die Person, von der sie immer geträumt hatte, deren Namen sie nur vergessen hatte.
„Ich freue mich auch.“, antwortete die Elfe vor ihr. Sie traten aufeinander zu, um sich zu umarmen. „Es ist lange her. Sehr lange, seit wir uns das letzte Mal sahen.“ „Ja, das stimmt.“, entgegnete Lindenschein.
Sie ließen wieder voneinander los, hielten sich dennoch an ihren Armen fest. Das Wasser aus dem kleinen Teich hinter Lindenschein hatte seine Spuren nun auch auf Nebeltau hinterlassen. Doch es schien ihr keine Umstände zu machen. Nebeltau sagte weiter: „Dabei waren es doch so unsagbar niederträchtige Verhängnisse, die dich von uns rissen.“ „Wo sind denn die anderen?“
„Sie bereiten unseren Abschied vor. Unser Platz auf dieser Erde ist uns fast genommen.“ „Was redest du da?“, sprach Lindenschein lächelnd.
„Woher solltest du auch wissen.“, Nebeltau schien wie abwesend zu sein. „Unmut und Unglanz ist über uns gekommen, Lindenschein. Wir werden bedroht. Die Heimat, die wir als unsere betrachtet haben, ist bald zerstört. Dies ist einer unserer letzen Teiche, die uns geblieben sind.“ Lindenschein sah leicht verstört auf Nebeltau. „Was ... was sprichst du da?“, sagte sie ungläubig. „Was ... was sollte unsere heiligen Heine vernichten. Keine Macht der Welt kann das.“ Lindenschein setzt sich neben die Halme, an denen sie sich aus dem Wasser gezogen hatte. „Ich kehre gerade zurück und du erzählst mir etwas davon, dass die Elfen gehen müssen? Nein ... nein, das glaub ich nicht. Das kann ich nicht glauben. Nicht ausgerechnet jetzt.“
„Du warst lange fort.“, antwortete Nebeltau. „Vieles ist in der Zwischenzeit geschehen.“ „Aber was“, fragte Lindenschein, „könnte so schlimm sein, dass die Elfen Abschied nehmen müssen?“ „Steh auf!“, befahl Nebeltau. Dabei machte sie eine Bewegung mit ihrer Hand, die ihre Worte unterstrich. Sie trat einen Schritt zurück, drehte sich um und ging in eine Richtung davon. Lindenschein folgte ihr. Nebeltau hatte gerade ein Gebüsch erreicht, da holte Lindenschein sie ein. „Komm und sieh es dir an!“
Lindenschein ging näher an den Halm heran, an den Nebeltau eine Hand gelegt hatte. Als sie nahe genug heran war, zog Nebeltau den Halm herunter und gab den Blick auf das, was dahinter lag, frei.
Nie zuvor Gesehenes traf Lindenscheins Auge, das sie zusammenfahren ließ. In der Ferne erhoben sich mächtige graue Bauwerke. Dunkle Linien durchzogen die ewigen Lande. Die einst saftigen Wiesen waren braun, andere gelb. Nur die wenigsten waren noch grün und auf den allerwenigsten tummelten sich Blumen. „Ein bisschen zu eindeutig, was du mir hier zeigst.“, sagte Lindenschein plötzlich.
„Was meinst du?“ Nun war Nebeltau die, die nicht verstand.
„Kein Schrecken kann so grausam sein. Das kann nicht über uns gekommen sein. Was verheimlichst du mir?“
„Ich verheimliche dir nichts, meine Schwester. Den Schrecken, den du meinst, ist dir wohlbekannt. Unsere eigene Rasse hat ihm oft geholfen und wir lebten auch lange Zeit gut mit ihm zusammen. Doch hat er seine Macht, die wir ihm gaben, missbraucht. Viel ist geschehen während du wegwarst.“ Bei diesen Worten nahm Nebeltau ihre Hand herunter und der Halm schwang wieder nach oben. Unschlüssig stand Lindenschein im Schatten eines Blattes und sah noch immer auf die gleiche Stelle. Der Halm schuf eine Barriere zwischen ihr und der Außenwelt, die sie für einen kurzen Augenblick gesehen hatte und diese Abwehr half ihr schließlich, sich von ihren Gedanken zu lösen und Nebeltau wieder anzusehen. Nebeltau sah ihr mit einem erhabenen Ausdruck im Gesicht entgegen. „Wir sind stolze Geschöpfe. Unser Vermächtnis von den Urmächten wurde uns genommen. Lass uns deswegen nicht weiter trauern.“
„Nein,“, antwortete Lindenschein, „du hast Recht. Wenn es Zeit für uns wird, dann müssen wir gehen.“ „Dann werden wir gehen. Wie auch schon die anderen Geschöpfe vor uns.“, sagte Nebeltau.
Lindenschein setzte sich. Durch einen Spalt im Gebüsch vor ihr sah sie einen kleinen Ausschnitt aus der Welt hinter den Halmen und was sie sah, ließ sie wieder erschauern. Tiefe Gefühle der Trauer umschlungen sie und aus ihrem Herzen, das sie in diese Welt zurückgebracht hatte, kamen zwei Tränen hervor, die schließlich aus ihren Augen kullerten. Dort, wo sie auf den Boden trafen, entsprossen dunkle Rosen, die sofort zu wachsen begannen. Denn es waren dunkle Tränen die in ihrem Körper entstanden waren, geboren aus Furcht und Angst. Alle Rosen dieser Welt waren so entstanden.
Nebeltau stellte sich neben sie. Auch aus ihrem Auge kullerte eine Träne. Doch als sie neben der Rose auf den Boden traf, wurde sie zu einer gelben Sonnenblume, die sich sofort gierig nach den Sonnenstrahlen reckte.
„Du weinst helle Blüten. Wieso?“, fragte Lindenschein.
„Ich bin froh, dass du wieder da bist. Lassen wir uns nicht leiten von Trauer und Schmerz. Schauen wir doch nach oben, in die Sonne.“ Lindenschein sah einige Momente immer noch traurig weiter, doch dann regte sich ein Lächeln in ihren Zügen und sie nickte.
Plötzlich hörten sie einige Schritte zwischen den Bäumen, dann ein Knacken, gefolgt von einem Rascheln. Beide Elfen schauten in die Richtung. Lindenschein rappelte sich sogleich wieder auf und sprach: „Ich fühle Schmerz.“ Nebeltau stimmte zu.
Beide machten sich sogleich in die Richtung auf, aus der immer noch die Geräusche kamen. Als sie um einen dicken Stamm herum waren, sahen sie die Ursache des Raschelns.
Verkrümmt und mit zitternden Pfoten war ein Hase unter einem dicken Ast begraben. Eine kleine Blutlache bildete sich unter dem sterbenden Körper und auch um den Mund herum sammelte sich Blut an. Die Vorderpfoten wirbelten in den Kieselsteinen umher und ließen so kleine Staubfontänen entstehen. Die hinteren Beine lagen reglos im Moos. Die Augen, schreckensweit geöffnet, sahen ins Nichts. Beide Elfen waren so einen Anblick gewöhnt, doch bei Lindenschein löste er dieses Mal große Trauer aus. Die Trauer, die sie gerade noch überwunden zu haben glaubte. Sie näherten sich beide dem zuckenden Körper.
Als der Hase die beiden Ankömmlinge erblickte, wirbelten seine Pfoten noch mehr umher. Doch dann erkannte er sie endlich und ließ von seinem Vorhaben ab. Lindenschein trat noch einen Schritt näher und legte ihren Kopf leicht schief. Dann nahm sie ihre linke Hand und streichelte damit die Nase des Tieres. Auch Nebeltau trat endgültig heran und legte eine ihrer Hände auf die Stirn des Sterbenden. „Schließ deine Augen.“, sagte sie. Der Hase strampelte noch ein Mal und tat dann das, was ihm gesagt worden war. Die Augen schlossen sich und der Körper sackte leicht in sich zusammen, als die letzte Luft aus ihm entwich. Lindenschein streichelte noch einige Momente weiter die Nase und trat dann von dem leblosen Körper zurück.
„Komm, lass uns nicht zu lange warten.“, sprach sie zu Nebeltau. „Ich habe die Ewigkeit lange genug ertragen müssen. Ich will noch was von der Welt sehen, die uns geblieben ist. Und wer weiß, vielleicht können wir das Schicksal noch wenden.“ Die letzten Worte hatte sie mit einem hörbaren Verlangen ausgesprochen. Sie glaubte an das, was sie sagte. Nebeltau hingegen starrte, während Lindenschein dies sprach, weiter den toten Hasen an. „Ist dir das hier nicht Beweis genug, dass es mit uns zu Ende geht.“ „Aber das hat es doch schon immer gegeben.“, antwortete Lindenschein. Nebeltau blickte noch einmal kurz auf den Leichnam, drehte sich dann zu Lindenschein um und sagte: „Ja, das hat es. Aber noch nie so oft wie in letzter Zeit. Dennoch, deine Worte klingen gut. Lass uns gehen.“ Nebeltau ergriff bei diesen Worten eine Hand von Lindenschein und sie flogen in die Baumwipfel empor.
Gerade dort angekommen, ging auch schon die Sonne in ihrem roten Flammenmeer unter. Beide Elfen setzten sich auf die Spitze eines Baumes und blieben noch eine Weile so sitzen, bis Lindenschein sagte: „Ich kann es nicht so enden lassen, Nebeltau. Ich werde versuchen zu retten, was sich der Rettung nicht verschließt.“ Nebeltau sah ihre Schwester noch einige Augenblicke so an, dann schüttelte sie den Kopf und lächelte dabei. „Nein, wie könnte ich dich daran hindern. Ich aber kann dir dabei nicht helfen. Damit musst du alleine zurechtkommen. Aber du weist ja, wo du uns finden kannst.“
„Ja ja.“, antwortete Lindenschein. „Der zweite Berg zur Rechten des Unendlichen und dann immer weiter bis zum Sternenglanz.“ „Genau.“, hauchte Nebeltau und aus ihren Augen flossen einige Dutzend Tränen. Als sie die Baumspitze verließen, wiegte zum Abschied am Boden ein junges Rosenmeer.