Was so verzehrt wird, wies Mutter Natur hergegeben hat, kann nur gesund sein! - Dies scheint auf den ersten Blick logisch und einleuchtend.
Daß jedoch die Zubereitungsmethoden, die die Menschheit im Laufe der letzten Jahrtausende entwickelt hat, nicht samt und sonders Ausdruck einer dekadenten Fehlernährung zu sein scheinen, macht folgender Artikel deutlich:

Angriff der Körnerfresser

Tatort Ökoküche: Die allseits propagierte Vollwertkost schlägt auf den Magen. Zu warnen ist vor Blähungen und Selbstvergiftung


»Eine Möhre zu schnippeln, eine Kartoffel zu schälen, sich selber ein gesundes Vollkornbrot zu schmieren – das gehört für mich zum Bildungsauftrag der Kitas!« (Renate Künast )

Angesichts solcher Äußerungen der Verbraucherschutzministerin wird verständlich, warum die meisten Menschen glauben, Vollwertkost sei besonders gesund. Trotzdem richten sich aber nur relativ wenige nach den Vorschriften dieser Ernährungslehre. Das hat gute Gründe. Im unbehandelten Zustand enthalten die meisten Gemüse und Cerealien eine Reihe von Abwehrstoffen, die den Appetit potentieller Fraßfeinde verderben sollen. Viele dieser Substanzen beeinträchtigen die menschliche Verdauung und senken den Nährwert (zum Beispiel Enzyminhibitoren, Alkylresorcine oder Phytinsäure), andere wiederum sind sogar giftig (wie etwa Lektine, Mykotoxine oder Solanin). Verhängnisvollerweise tummeln sie sich gerade in der als »gesund« geltenden Randschicht der Getreidekörner, die von Rohköstlern möglichst »natürlich« mitgegessen wird. Weil schädliche Proteine wie Enzyminhibitoren reich an essentiellen Aminosäuren sind, erweckt Getreideprotein in Nährwerttabellen den Anschein, es sei besonders hochwertig – ein doppelter ernährungswissenschaftlicher Irrtum angesichts der Tatsache, daß es nicht nur selbst größtenteils unverwertbar ist, sondern auch die Verfügbarkeit anderer Nährstoffe verhindert.

Weder Pansen noch Kropf

Unangenehme Blähungen, die für den Einstieg in die Vollwertkost meist typisch sind, zählen zu den eher harmlosen Nebenwirkungen der Antinutritiva. Über einen längeren Zeitraum konsumiert, können sie gar eine intestinale Autointoxikation hervorrufen, also eine Selbstvergiftung, die vom Darm ausgeht. Der Grund: Sobald Amylaseinhibitoren aus dem Vollkorn körpereigene Enzyme regelmäßig an der Stärkeverdauung hindern, bleibt diese den Darmbakterien überlassen. Dadurch kommt eine regelrechte »Zuckerfabrik« in Gang, die schließlich zur Bildung von giftigen und stark riechenden Stoffen bzw. Gasen führt, unter anderem von Gärungsalkoholen, Fuselölen und Fäulnisstoffen wie Indol, Kresol oder Skatol sowie jeder Menge biogener Amine. Die das Erbgut verändernden Zellgifte schädigen Schleimhaut, Drüsen, Muskeln, Nerven und Immunsystem des Darms. Nach Angaben von Karl Pirlet, dem ehemaligen Ordinarius an der Uniklinik Frankfurt und seit Jahrzehnten ärztlich und wissenschaftlich mit den Folgen der Vollwerternährung beschäftigt, hat die Giftwirkung nicht nur Erkrankungen der Verdauungsorgane zur Folge: Sie kann auch zu chronischen Katarrh- und Infektionszuständen führen, zur arteriellen Gefäßsklerose sowie zu entzündlichen und degenerativen Erkrankungen des Bewegungsapparates.

Dass stetiger Vollkornverzehr den Verdauungstrakt langfristig überfordert, liegt auf der Hand. Schließlich hat der Mensch im Vergleich zu typischen Pflanzenfressern wie Rindern oder Federvieh weder Pansen noch Kropf, die ihm dabei helfen, Körner aufzuschließen und bekömmlich zu machen. Er nutzt Getreide erst seit rund 10 000 Jahren in nennenswerter Menge als Nahrungsmittel und mußte aufwendige Verarbeitungsmethoden wie Mahlen, Fermentation und Backen entwickeln, um es verdauen und seine Nährstoffe verwerten zu können. Im Gegensatz zum modernen Rohköstler haben sich selbst unsere frühen Vorfahren nicht mit rohen Getreidekörnern verköstigt. Zu den Prozeduren, denen bereits einfache Breie und Fladen – also die Vorstufen des Brotes – unterworfen waren, gehörten das Rösten und Zerstoßen der Körner. Dazu griff der Mensch in der Stein- und Bronzezeit auf einfache Mahlsteine und Mörser zurück. Der Röstvorgang verbesserte die Verdaulichkeit der Produkte, indem er einen erheblichen Teil der sekundären Pflanzenstoffe zerstörte. Auch die Römer rösteten ihr Getreide. Damit erleichterten sie nicht nur das Marschgepäck der Legionäre, sondern schützten das Gut zudem vor Schimmel und Fäulnis.

Davon, wie gefährlich unverarbeitete Fasernahrung ist, zeugen nicht zuletzt die erschreckenden Ergebnisse einer Gießener Studie: Der langjährige Verzehr von Rohkost (70 bis 100 Prozent der Nahrungszufuhr) führte bei den über 500 Teilnehmern zu einem starken Gewichtsverlust. Innerhalb von knapp vier Jahren büßten die männlichen Probanden durchschnittlich fast zehn und die weiblichen zwölf Kilogramm Körpergewicht ein. Bei nahezu einem Drittel der Frauen unter 45 Jahren blieb die Regelblutung aus, rund 70 Prozent klagten über Menstruationsbeschwerden. Untergewicht und Amenorrhöe korrelierten positiv mit der Höhe des Rohkostverzehrs. Die Autoren verweisen in diesem Zusammenhang auf ein erhöhtes Risiko für Herz-Kreislauf-Erkrankungen sowie Osteoporose. Daß sie dennoch mit der Bemerkung schließen, ein Rohkostanteil von 50 Prozent der zugeführten Nahrungsmenge sei »für die Gesundheit unter normalen Bedingungen optimal«, dürfte wohl daran liegen, daß Claus Leitzmann, der Mitbegründer der zeitgenössischen Vollwertidee, die Untersuchung betreute.

Voll nicht halb so viel wert

Wie ungesund Rohkost auf Dauer sein kann, mußten die meisten Anhänger der Vollwertlehre letztlich am eigenen Leib erfahren. Von den Tücken der Körner blieben nicht einmal ihre Aufklärer verschont: viele griffen – im stillen Kämmerlein, versteht sich – auf Altbewährtes zurück, weil sie ihre propagierte Kost selbst nicht mehr vertrugen. Natürlich finden sich unter den Ernährungsextremisten mitunter auch solche, die besonders verdauungsstark sind und längere Zeit mit Fasernahrung zurechtkommen. Daß aber die allermeisten Zeitgenossen an Rohkost scheitern oder daran erkranken, scheint die Prediger nicht weiter zu kümmern.

Wenn schon Gesunde daran erkranken – wie riskant mag Vollwert dann erst für Kranke sein? Karl Pirlet bringt es auf den Punkt: »Eine Ernährungsweise, die sich monoman an der Vollwertigkeit, an der Nährstoffdichte der Nahrungsmittel orientiert, aber die jeweilige Besonderheit des Nahrungskonsumenten, die Not des Patienten, übersieht oder vernachlässigt – eine solche Ernährungsweise kann aus wissenschaftlicher und ärztlicher Sicht nicht als vernünftig bezeichnet werden.« Schließlich sei der Mensch das Maß aller Diätetik und nicht das Nahrungsmittel. Laut Pirlet ist eine Ernährung nur dann »naturgemäß«, wenn sie der Natur des einzelnen und seiner Verdauung entspricht. Die Vollwerternährung aber, so wie sie derzeit propagiert und praktiziert wird, schade mehr, als sie nütze.

* Tamás Nagy ist Diplom-Ökotrophologe und Chefredakteur der Zeitschrift E.U.L.E.n-Spiegel, die vom Europäischen Institut für Lebensmittel und Ernährungswissenschaften herausgegeben wird (www.das-eule.de). Ausführlichere Fassungen des Artikels sind dort und in der aktuellen Novo erschienen: www.novo-magazin.de

Quelle:www.jungewelt.de