Grundsätzlich bin ich für einen Beitritt Türkei's zur EU. Es sollten allerdings die wirtschaftlichen Voraussetzungen dafür gegeben sein, um eine massive Völkerwanderung zu verhindern.
Interessant finde ich, daß bei den Gründen dagegen immer der geographische Aspekt auftaucht. Nach eurer Argumentation dürften dann auch folgende Gebiete, die zwar Teile von Mitgliedstaaten sind, aber außerhalb von Europa liegen nicht dazu gehören:
Und die Türkei hat immerhin auch einen kleinen Zipfel des geographischen Europas. Das langt allemal, um eine Berechtigung zu haben, um in die EU aufgenommen zu werden (wenn man nur die geographische Lage berücksichtigt). Eine Ablehnung aufgrund der geographischen ist absoluter Nonsens. Es ist nur der Name, der euch treiben läßt.Madeira und die Azoren (Portugal); die Kanarischen Inseln (Spanien) sowie Ceuta und Melilla (spanische Exklaven in Nordafrika); die französischen Übersee-Departements Guadeloupe und Martinique in der Karibik, Französisch-Guayana in Südamerika (von dort aus starten die Europa-Raketen "Ariane") und Réunion im Indischen Ozean.
Alle übrigen Gebiete in Übersee, die zu Staaten der EU gehören (wie Falkland-Inseln, St. Helena, Niederländisch-Antillen, Französisch-Polynesien mit dem Mururoa-Atoll, Saint Pierre et Miquelon), sind der EU assoziiert.
Wichtiger ist es sich in den Kopf zu rufen, warum damals die EU (oder deren Vorläufer) gegründet wurde. Man hatte eine Vision der Vereinigten Staaten von Europa, um einen dauerhaften Frieden innerhalb dieses "Staatenbundes" zu gewährleisten. Am schwersten fällt es immer noch eigene "Monumente" zu zerstören als fremde.
Der Anfang wurde mit einer wirtschaftlichen Union begangen. Diese hat mit dem EURO die erste wirklich wichtige Hürde genommen. Nun wird es für die Zukunft wichtig werden, ob wir eine gemeinsame politische Richtung einschlagen. Meiner Meinung nach ist dies unbedingt notwendig damit die EU ein dauerhafter Zustand werden kann, der uns Frieden (zumindest unter den Mitgliedern untereinander) garantiert. Und gerade für diesen politischen Aspekt bietet die Türkei hervorragende Voraussetzungen. So könnte Türkei eine Art Mittler sein für eine Beendigung des Nah-Ost-Konfliktes (vielleicht spielt mir das Wunschdenken einen Streich, doch die Chance wäre da) und was noch viel wichtiger wäre: Der Abbau der Vorurteile bezgl. der anderen Religion.
Der religiöse Aspekt ist für eine Einigung überhaupt nicht wichtig. Im Gegenteil sehe ich eine Chance für eine bessere Verständigung zwischen Christen und Muslime. Es existieren immer noch sehr viele Vorurteile, die aus dem Weg zu räumen sind. In der Regel werden immer die hier lebenden Türken als Beispiel herangezogen. Es ist aber meistens so, daß gerade die hier lebenden Türken eine alte Denkensweise beibehalten haben. Sie haben ihre Sitten und Gebräuche so beibehalten, wie sie damals waren, als sie ihr Land verlassen haben. dies ist verständlich, da dies meist das einzigste war, was sie mit ihrer Heimat verbindet. Doch in der Türkei selber hat sich auch sehr viel verändert. Gerade die Städter sind viel freidenkender geworden und weniger von der Religion verfälscht (Dies ist nicht als Angriff gegen den Islam zu werten; Religionen haben noch nie eine Garantie auf Frieden gegeben, eher das Gegenteil war der Fall), da ich , als die hier lebenden Türken und sogar vieler sog. Europäer. Eine Chance sehe ich aber auch hier und zwar bei denen in z.B. D
geborenen Türken. Sehr viele sprechen ein besseres Deutsch als wir und sind doch letztendlich nur Türke aufgrund der Nationalität. Hinundhergerissen zwischen der alten Tradition ihrer Eltern und unserer 'Kultur' liegt es gerade an ihnen Veränderungen zuzulassen und Anpassungen vorzunehmen (so wie diese schon in der Türkei von ihren 'Landleuten' gelebt werden), die es erlauben uns einander näher zu bringen.
Bei allem was dagegen spricht ist doch immer eine gewisse Angst zu spüren. Die Angst vor etwas Neuem. Akzeptieren wir diese Angst und bauen an unserer Vision weiter.
Ich wollte mich hier eigentlich nicht beteiligen, aber ein Artikel im heutigen Feulliton der F.A.Z. hat mich dazu angeregt. Aus Sicherheit habe ich ihn ganz als Zitat eingebunden, da man auf das Archiv der F.A.Z. meines Wissens nur als Mitglied zugreifen kann. Und gerade für diese Diskussion ist er wichtig:
Gerne würde ich auch den am Schluß im Zitat genannten Artikel lesen. Doch leider habe ich keine Möglichkeit auf ihn zuzugreifen. Wenn ihn einer von euch noch hat, wäre es schön, wenn dieser ihn mir auf irgendeinem Weg zukommen lassen könnte.Die Türkei ist längst europäisch / Von Jean-Daniel Tordjman
Ob man es nun wissen will oder nicht: Die europäische Kultur ist im östlichen Mittelmeer aus einem griechisch-lateinischen und jüdisch-christlichen Doppelerbe entstanden. Wo lebte Herodot von Halikarnassos, der Vater der Geschichte? Und Strabo, der größte Geograph des Altertums? Und Äsop, der dem wunderbaren Jean de La Fontaine die Fabeln eingab? Wo lebte Lukullus, von allen Feinschmeckern verehrt? Wo häufte Krösus seine Reichtümer? Wo lehrte Thales von Milet? Wo lebte Mithridates, der dem großen Pompejus, von dem Plutarch uns berichtet, die Stirne bot? Und wo liegt Phrygien, das uns die rote Mütze der Marianne gab? Wo liegt Troja, der Rivale des glorreichen Athen, wo Hektor, Achilles und Agamemnon, Odysseus und die schöne Helena zum Ruhm kamen, den der göttliche Homer verewigte und Jacques Offenbach auf den Pariser Bühnen neu belebte? Und Pergamon, das dem Papyrus-Monopol von Byblos entgehen wollte - jenem von phönizischen Kaufleuten gegen das für den pharaonischen Totenschiffsbau nötige libanesische Zedernholz aus Ägypten importierten Papyrus - und so das Pergament erfand, mit dem die europäische Kultur über Jahrhunderte hin ihr Wissen weitergab? Wo Ephesos, dessen Orakel mit jenem von Delphi wetteiferte? Und Gordion, wo Alexander der Große mutig den Gordischen Knoten durchtrennte und so den Vorrang des menschlichen Willens behauptete? Und der gewundene Meanderfluß? Wo liegt Ionien, Heimat jener klassischen Bauordnung, die von Vitruv bis Palladio und Viollet Le Duc die ganze abendländische Baugeschichte beeinflußte? Woher kommen die Traumgestalten, die unsere Museen bevölkern, die Aphrodite von Knidos, die Diana von Ephesos und die großartige, beglückende griechische Bildhauerei?
Alle Bildungsliebhaber werden antworten: aus der Türkei oder vielmehr aus Kleinasien, einer der bedeutendsten Wiegen unserer abendländischen Kultur. Gewiß hat die Türkei, wie auch das ganze Europa, ungeheure Völkerdurchmischungen erlebt. Aber die Nachfahren dieser gewaltigen Kultur sind immer noch da. Und wenn man von den griechischen zu unseren jüdisch-christlichen Wurzeln übergeht, findet man Simon/Petrus in Antiochia, der Hauptstadt der jüdischen Jünger Jesu, die sich zum ersten Mal Christen nannten. Und wohin wendete sich Saul, der Tarse, griechischer Jude und römischer Staatsbürger, mit seinen Briefen? Nach Ephesos und zu den Galatern, Abkömmlingen unserer Gallier, die nach der Verwüstung Roms sich in Anatolien niederließen. Woher kommt der Vorgänger unseres Weihnachtsmanns, der heilige Nikolaus, Bischof von Myra in Pamphylien?
Wo liegt der Berg Ararat, an dem die Arche unseres von allen drei monotheistischen Religionen verehrten Ahnen Noe auflief? Und wo haben Jason und seine Argonauten das Goldene Vlies gesucht, jenes Symbol des glorreichsten Ordens im Abendland? Wo entstand das erste christliche Reich, jenes von Konstantin, Justinian und Theodosus? Wo setzte sich das christliche Credo fest, wenn nicht in Nikäus, dem heutigen Iznik, beim Ersten Ökumenischen Konzil von 325? In derselben gottesgläubigen Gegend haben Nestorius, Patriarch von Konstantinopel, und Arianus das Christentum ausgelegt, indem sie die entscheidenden Fragen stellten - jene Fragen, die heute als ketzerisch abgetan werden.
Diese zahlreichen Beispiele zeigen, daß Ephesos, Smyrna, Halikarnassos, Phrygien, Ionien und selbstverständlich Konstantinopel, sprich: Byzanz, sprich: Istanbul - mit einem Wort: die Türkei -, nicht nur zu Europa gehören, sondern eine wesentliche Komponente unseres Kultur- und Geschichtserbes ausmachen. Soll man denn Jesus aus der europäischen Kultur ausschließen, nur weil er aus Nazareth kommt, und Petrus, weil er aus Galilee, Augustinus, weil er aus Hippo stammt?
Friedensliebe genügt nicht
Selbst wo sie die "kranke Person Europas" war, gehörte die Türkei stets zum "europäischen Konzert". Lesen wir die wunderbare Geschichtslektion Victor Hugos in "Der Rhein" nach, wo er die "sechs Mächte der Ersten Europäischen Machtordnung" beschreibt: "den Heiligen Stuhl, das Heilige Reich, Frankreich, Großbritannien, Spanien und selbstverständlich die Türkei". Welches ist im einundzwanzigsten Jahrhundert die größte Herausforderung Europas? Will man nicht nur rhetorisch antworten, dann muß man sagen: die Überwindung der zwischen Islam und Abendland sich abzeichnenden Konfrontation. Dazu kann der europäische Zusammenschluß helfen.
Hauptsache dieses europäischen Zusammenschlusses ist die Sicherung des Friedens. Nach Jahrhunderten von Bruderkrieg und Millionen Toten hat die Europäische Union geholfen, die deutsch-französische Konfrontation zu überwinden und den Krieg zwischen unseren zwei Völkern unmöglich, ja absurd zu machen. Das ist eine Frage von Strategie, politischem Willen und Methode. Briand und Stresemann wollten ebenfalls den Frieden, doch ihre Ablehnung des Krieges stieß an ihre Grenzen und zerbrach. Jean Monnet, de Gaulle, Adenauer, Spaak und De Gasperi hatten eine andere, ungemein fruchtbarere Eingebung: Um den Krieg unmöglich zu machen, genügt es nicht, ihn zu ächten. Man muß zusammen etwas aufbauen. Man braucht ein gemeinsames Ziel. Deshalb ist der europäische Zusammenschluß für uns Europäer die größte Tat des Jahrhunderts.
Welches ist heute, wo der Nazismus fast verschwunden, der Eiserne Vorhang gefallen und der Kommunismus zerstört ist, die größte Bedrohung unserer Kultur? Es ist nicht der Islam, wie manche uns glauben machen wollen. Es ist der fanatische Terrorismus, der zum Zusammenprall von Islam und Abendland und zu dem von Huntington beschriebenen "Krieg der Kulturen" führen will. Sollen wir in die mörderische Falle gehen, die uns von zwei Seiten gestellt wird? Wir müssen die unbedachten Emotionen in der Folge der Ereignisse des 11. September überwinden. Wir können nicht wegen ein paar tausend skrupellosen Terroristen in der muslimischen Welt unsere Länder und unsere Jugend in einen mörderischen und absurden Krieg schicken zwischen Islam und Okzident.
Europa braucht gewiß mehr Geistigkeit - das ist auch die Überzeugung des Vatikan. Doch ist der europäische Zusammenschluß ein politischer und wirtschaftlicher, keineswegs ein religiöser Zusammenschluß. Für diesen letzteren gibt es Kirchen. Wenn die Verantwortlichen der deutschen Protestanten gemeinsam mit denen der deutschen Katholiken die "christliche Dimension" Europas betonen, sollten sie lieber ihre Geschichtskenntnisse auffrischen. Voltaire hat es schon gesagt: "Die Türken waren es, die den Protestantismus in Deutschland gerettet haben." Unfreiwillig zwar, doch gehört das zu den paradoxen Seiten der Geschichte. Ohne den vom Hochchristlichen König von Frankreich ermutigten militärischen Druck der Türken hätte Karl V. seine Truppen auf die protestantischen Staaten konzentriert. Die religiöse Physiognomie Deutschlands wäre dann anders ausgefallen.
Der türkische Antrag und die durch Giscard d'Estaing veranlaßte Debatte hatten den großen Nutzen, die Frage in ihrer ganzen Kompliziertheit und ihrer Einfachheit überhaupt ins Rollen zu bringen. Die Türkei abzuweisen wäre meines Erachtens ein gravierender strategischer Irrtum mit unabsehbaren Folgen für Europa. Eine solche Abweisung würde uns eines mächtigen Verbündeten berauben, eines Gründungsmitglieds der OECD und des Europarats, das sich für den Westen entschied und das in der NATO nie untreu war. Wer kennt im westlichen Europa Kasachstan, Turkmenistan, Usbekistan, Tadschikistan, Iran, Irak, Syrien oder Afghanistan besser als die Türken? Wer kennt wie sie deren Sprache, deren Regions- und Völkerunterschiede, deren strategische Ambitionen, deren Stärken und Schwächen?
Die Lehren aus Gomorrha
Eine Abweisung der Türkei würde jene zur Resignation treiben, die an den Westen geglaubt haben, und würde deren Gegner stärken. Allein die Perspektive einer Anbindung der Türkei an Europa würde sofort deren Demokratie stärken, wie das in Griechenland, Spanien und Portugal schon der Fall war. Sie würde Europa zugleich die neue Chance geben, im Nahen Osten eine aktivere Rolle zu spielen. Als Wasserturm des Nahen Ostens mit der Kontrollgewalt über diese wichtige Ressource und als ein in die islamische Welt gut integriertes muslimisches Land mit dennoch guten Beziehungen zu Israel würde die Türkei allein durch ihre Präsenz die Glaubwürdigkeit und die Einflußkraft Europas in dieser strategisch wichtigen Region sofort verstärken.
Die Geschichte liefert Europa eine unverhoffte Chance, ein muslimisches Land zu integrieren, das seit einem Jahrhundert Moderne gegenüber Integrismus, Bildung gegen Ignoranz, Frauenemanzipierung gegen Unterdrückung, Code Civil gegen die Scharia bevorzugt hat. Dieses Land erklärt zu siebzig Prozent, daß es die Integration in Europa will. Diese Übereinstimmung der politischen Kräfte in der Türkei ist bemerkenswert. Daß Kemal Dervis und seine Freunde für die Anbindung waren, wußten wir schon. Über die anderen hatten wir Zweifel. Heute ist die Antwort klar.
Die biblische Tradition bietet eine ungewöhnliche Auslegung der Geschichte von Sodom und Gomorrha an. Warum zerstörte Gott die sündigen Städte? Nicht, weil deren Bewohner homosexuell waren, sondern aus einem viel tieferen Grund. Wenn ein Fremder nach Sodom kam, wurde er wie überall sonst im Orient gastfreundlich aufgenommen. Wenn seine Füße aber über die Bettkante ragten, wurden sie abgeschlagen. Wenn er zu klein war, zog man ihn in die Länge. Der Tod war ihm in beiden Fällen gewiß. Der Gott der Bibel hat Sodom zerstört, weil die Bewohner dieser Stadt Unterschiede nicht akzeptierten.
Bereichern wir uns mit unseren Unterschieden. Die Türkei ist ein hochzivilisiertes Land mit militärischer Courage und einer Tradition des Laizismus, der religiösen und philosophischen Toleranz. Dieses Land in Europa an unserer Seite zu haben ist eine Chance im Umgang mit dem Islam. Ein Europa der fünfundzwanzig wird seine Mitglieder ohnehin nie mehr so wie einst zu sechst integrieren.
Die Aufnahmeverhandlungen mit der Türkei werden Jahre dauern, wie bei den anderen Kandidaten davor. Die Bedingungen wurden 1993 formuliert, sie müssen erfüllt werden. Worauf es heute aber vor allem ankommt, ist die doppelte Botschaft, die von Europa ausgehen muß. Eine Botschaft an die für Demokratie, Menschen- und Frauenrechte offenen Muslime mit dem Inhalt: Europa will keinen Krieg der Kulturen. Eine andere Botschaft an die Terroristen von Al Qaida mit dem Inhalt: Wir werden nicht in eure Falle gehen und euch im Verein mit unseren muslimischen Verbündeten bekämpfen.
Strafen wir die Unheilsverkünder Lügen. Der Türkei ist die Rolle eines Vermittlers zwischen Islam und Okzident bestimmt. Das ist eine Chance für Europa. Lassen wir sie nicht vorbeigehen.
Aus dem Französischen von Joseph Hanimann.
Der Autor ist Generalinspektor im französischen Finanzministerium und Vorsitzender des "Kreises der Botschafter". - Unter dem Titel "Das Übermorgenland" plädierte der Tübinger Philosoph Otfried Höffe gestern an dieser Stelle gegen eine überstürzte Aufnahme der Türkei in die Europäische Union.
Frankfurter Allgemeine Zeitung, 12.12.2002, Nr. 289 / Seite 35
Viele Grüße
wu-chi





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