2. Kapitel

Eine Woche lang änderte sich an dem Zustand der Frau nichts. Die Andorianer waren auf ihren Heimatplaneten zurückgekehrt und die Krankenstation war leer geworden. Jeder, der an dem Bett mit der Fremden vorbeikam, blieb eine Weile bewundernd davor stehen. Und bald war überall auf dem Schiff bekannt, daß auf der Krankenstation ein wunderschönes Dornröschen lag. Aber sie sollte nicht 100 Jahre schlafen, sondern wachte an diesem Tag auf.

Als Mary die Augen aufschlug, blickte sie in das Gesicht einer hübschen jungen Frau mit rötlichen Haaren. Die Frau trug eine seltsame blaue Uniform und einen seltsamen blauen Kittel. Mary sah Besorgnis in den Augen der Frau.
„Wie geht es ihnen?“ fragte die rothaarige Frau.
„Ich weiß nicht. Irgendwie fühle ich mich vollkommen fertig.“
Die Frau tippte auf ein goldenes Ding auf der linken Seite ihrer Uniform und fing an zu sprechen. Mary konnte den Sinn der Worte nicht ganz verstehen.
„Doktor Crusher an Captain Picard. Sie sollten lieber sofort auf die Krankenstation kommen. Unser Gast hat soeben das Bewußtsein wiedererlangt.“
„Ich komme sofort“, kam eine männliche Stimme aus dem Nichts.
„Sind sie Ärztin?“ wollte Mary wissen.
„Ja.“
Mary versuchte sich aufzurichten und bemerkte, daß sie unter einer eigenartigen Decke lag und völlig nackt war.
„Was ist mit meinen Sachen passiert? Ich war doch bekleidet, oder nicht? Wo bin ich hier überhaupt?“ brachte sie völlig verwirrt hervor.
„Sie befinden sich auf der Krankenstation.“
Marys Aufmerksamkeit wurde auf eine Tür gelenkt, die sich soeben geöffnet hatte. Ein Mann trat an ihr Bett und schaute sie lange schweigend an. Er hatte grüne Augen, trug eine rote Uniform und besaß so gut wie keine Haare auf dem Kopf. Aber dennoch strahlte er Kraft und Autorität aus.
„Ich bin Captain Jean-Luc Picard. Sie befinden sich auf dem Föderationsraumschiff Enterprise.“
„Mein Name ist Mary May“, stellte sie sich vor.
„Wir sind froh, daß sie endlich wieder zu Bewußtsein gekommen sind. Es ist nämlich wichtig, daß sie uns einige Fragen beantworten.“
„Was ist denn überhaupt mit mir passiert?“ fragte sie und richtete sich auf, wobei sie die Decke dicht an ihren Körper gepreßt hielt. „Wie bin ich hierher gekommen?“
„Das wollten wir eigentlich von ihnen wissen.“
„Aber ich kann mich nicht daran erinnern. Ich weiß ja noch nicht einmal, was das hier für ein komisches Schiff ist. Ich kann keinen klaren Gedanken fassen.“
„Sie erinnern sich nicht an Tepus IV?“
„Nein. Was zur Hölle ist das? Eine Stadt. Ein Land. Davon habe ich noch nie etwas gehört“, sagte sie. In ihrer Stimme lag ein wenig Ungeduld. Sie fügte mit einem gezwungenen Lachen hinzu: „Liegt wohl nicht in der Nähe von Kansas, was?“
Der Mann und die Ärztin schauten sich überrascht an. Dann erwiderte die Frau: „Nein. Ganz und gar nicht. Sie befinden sich Tausende von Lichtjahren von der Erde entfernt.“
Mary blickte die Doktorin zuerst verblüfft an, dann fing sie an lauthals zu lachen.
„Das ist der beste Witz, den ich seit langer Zeit gehört habe. Beinahe hätten sie mir einen Schrecken eingejagt. Wirklich gut, Schätzchen.“
Mary lachte, schaute aber dann in die ernsten und besorgten Gesichter der beiden Menschen und plötzlich begriff sie. Das alles war kein Witz, es war bitterer Ernst.
Zuerst verspürte sie das Bedürfnis zu schreien, und den beiden Leuten zu befehlen, diesen Raum sofort zu verlassen. Aber hatte sie das Recht dazu? Sie war hier nicht zu Hause. Auch wenn sie im Moment nicht wußte, wo genau ihr zu Hause war, nahm sie an, daß es nicht auf diesem Schiff lag. Was hatte die Ärztin gesagt? Tausende von Lichtjahren von der Erde entfernt? Das erschien ihr unvorstellbar. Wie sollten Menschen in der Lage sein, die Erde zu verlassen? Wo war sie nur hinein geraten und vor allen Dingen, wie war sie hier her gekommen und wo war sie überhaupt vorher gewesen?
Mary faßte sich an die Stirn und schlug plötzlich mit der Faust auf das Bett. Ein Wutschrei entwich ihrer Kehle.
Die beiden fremden Menschen sahen sie erschrocken an.
„Ist alles in Ordnung?“ fragte Doktor Crusher.
„Nein!“ schrie Mary aufgebracht. „Nichts ist in Ordnung! Gar nichts!“
Wieder faßte sie sich an den Kopf. In ihr war ein Gefühl, das sie dazu drängte, nicht hier sitzen zu bleiben. Irgend etwas hatte sie vor gehabt. Etwas dringendes, das keinen Aufschub erlaubte. Aber was?
„Verdammt. Ich kann mich nicht erinnern. Mein Kopf ist leer.“
Sie ließ ihre Hand sinken und über ihre Wangen rannen Tränen.
„Was ist nur mit mir geschehen?“ schluchzte sie. „Ich will nicht hier sein. Laßt mich doch in Ruhe.“
Doktor Crusher berührte Mary tröstend an der Schulter und deutete dem Captain an, zu gehen. Er verließ mit einem Kopfnicken den Raum.
Beverly versuchte die verzweifelte Frau zu beruhigen. Das sollte also die gefährliche Person sein, von der Guinan gesprochen hatte. So etwas konnte sie nicht glauben. In ihren Augen war sie nur eine junge verwirrte Frau.

Es verging einige Zeit, bis die Frau zu schluchzen aufhörte und Doktor Crusher ganz sanft zu ihr sagte: „Mein Name ist Beverly Crusher.“
„Ich heiße Mary. Mary May, glaube ich.“
Beverly nickte und stand auf, um ihr ein Glas Wasser zu holen. Sicher war diese Frau durstig. Sie reichte ihr das klare Getränk. Mary nahm es und trank mit gierigen Schlucken.
„Sie waren lange Zeit bewußtlos“, erklärte Doktor Crusher. „Wir fanden sie auf Tepus IV. Das ist eine Kolonie der Andorianer gewesen, aber wir mußten den Planeten evakuieren.“
Die Frau schaute sie nur verständnislos mit ihren blauen Augen an. Beverly wurde schwindelig, als sie in dieses Blau schaute. Diese Augen waren so tief, wie das Meer an seiner tiefsten Stelle. Noch nie hatte die Doktorin solche Augen gesehen.
Mary fuhr mit ihrer Hand zu ihrem Hals und stockte.
„Wo ist meine Kette?“ fragte sie. „Ich hatte doch eine, oder?“
„Ja. Sie liegt in meinem Büro. Wenn sie wollen, hole ich sie.“
Beverly stand auf und war froh, eine Weile diesem durchdringendem Blick zu entkommen. Als sie aus ihrem Büro zurückkam, stand die Frau an ihrem Bett und hielt sich mit einer Hand fest. Sie schwankte und drohte umzufallen. Doch mit ihrer anderen Hand griff sie ans Bett und fing den Sturz rechtzeitig ab.
Wie anmutig sie sich bewegt, dachte die Doktorin.
Die Decke rutschte auf den Boden und entblößte ihren schlanken Körper und ihre makellose Haut. Mary kniete sich hin und hob die Decke auf. Darin hüllte sie sich ein und nahm auf dem Bettrand platz.
Beverly ging auf sie zu und legte ihr vorsichtig die Kette mit dem durchsichtigen, herzförmigen Kristall um. Mary nahm das Herz in ihre Hand und ließ die Kette durch ihre Finger gleiten.
„Ich weiß nicht, wer ich bin“, sagte sie mit leerem Blick. „Ich erinnere mich an nichts weiter als an meinen Namen.“
Beverly legte ihr abermals tröstend die Hand auf ihre Schulter. Und flüsterte, daß schon alles gut werden würde.
„Was werden sie jetzt mit mir machen?“ fragte Mary, aber darauf konnte Doktor Crusher ihr vorerst keine Antwort geben.

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Jetzt mit dem Erwachen der Hauptperson, fängt die ganze Geschichte an, lebendiger zu werden, finde ich. Und ich warte immer noch auf Kritiken.