~o~o~o~o~o~o~o~o~o~

Das Mädchen sah niemals ihren Vater. Niemals nicht ihre Mutter. Sie wurde aufgenommen und getestet und beobachtet.

Sie war gescheit, aber regelrecht erdrückt von den Wissenschaftlern. Sie ließen ihre Neugier nicht zu, wussten nicht, wie sie reagieren würde bezüglich ihrer wahren Herkunft. Trotz allem war sie ein normales, menschliches Kind mit dunklem Haar und blauen Augen. Ihre Körpertemperatur war niedriger, ihr Blut enthielt die gleichen unbekannten Stoffe wie das ihrer Mutter, aber sie war im Grunde so menschlich wie ihr Vater. Erst an dem Tag, als sie nur durch ihren Willen Zeit und Raum verzerrte, erkannten sie, dass sie doch nicht so menschlich war, wie sie angenommen hatten.

Es wurde wieder und wieder diskutiert, warum sie eine Fähigkeit haben konnte, die ihre Eltern nicht hatten. Wie eine Kreatur eine solche Kontrolle über etwas Abstraktes wie die Zeit entfalten konnte. Die einzige griffige Erklärung war, dass ihre Mutter nicht nur durch eine, sondern sogar durch zwei Raumverzerrungen gereist war, als das Raumschiff durch das Wurmloch kam. Und sie war da schon schwanger gewesen.

Sie wussten nicht mehr über Wurmlöcher, als zu dem Zeitpunkt, an dem der Mann und die Frau gefangen genommen wurden. Sie hatten keinen von ihnen je zum Reden gebracht. Das Schiff war nicht lange nach ihrer Gefangennahme gefunden worden, es wurde gründlich erforscht. Es zeigte Zeichen von extremen Gravitationskräften seiner Molekülstruktur. Und andere Spuren, vielleicht fremdartige Materialien, vielleicht das, was es ihnen ermöglicht hatte, in dem Wurmloch zu navigieren.

Vielleicht dachten sie, das Wurmloch habe eventuell den Fötus beeinflusst.

Das alles war nur Spekulation und für fast ein ganzes Jahr, nachdem sie den Korridor verzogen und den Pfleger eingefroren hatte, unterzogen sie sie den intensivsten Tests, die sie lebend an ihr durchführen konnten. Sie kamen zu keinem Ergebnis.

Sie tat es nie wieder in ihrer Gegenwart. Aber sie alle behandelten sie anders seitdem. Sie hatte auf sie gewirkt wie ein normales Kind, aber sie selbst hatte sie daran erinnert, dass sie keines war.

~o~o~o~o~o~o~o~o~o~

Lügen über Lügen. Das sich allmählich abzeichnende Geheimnis, das mich nur vor einigen Stunden so verunsichert hatte, erwies als nur die Spitze eines ganzen Eisbergs. Ich fühlte mich flatterig, als sei mein Körper nicht mein eigener, und vielleicht war er es auch gar nicht. Ich hatte ihn nie ganz bewohnt, trieb durchs Leben wie ein Geist. Und nun war ich plötzlich jemand völlig anderes. Ich hatte nie Gefühle gezeigt, weil ich mich immer so leer gefühlt hatte. Jetzt *wusste* ich, warum. Ich wusste, was mir gefehlt hatte. Es schien mir, als sei ich neu geboren.

Es schmerzte fürchterlich.

Kontrolle war natürlich die Lösung. War es immer gewesen. Ich nahm all meine Entschlossenheit und all meinen Mut zusammen, drängte die Tränen zurück und bezwang eine Welle unbekannter Gefühle.

Hatte ich erwartet, dass Beth etwas sagte? Was könnte sie sagen? Ich sah sie an, sah, dass sie abgespannt und müde wirkte. Leer. War es Erleichterung, die ich aus ihren Augen lesen konnte? Die Last einer heimlichen Bürde von ihr genommen? Sie hatte sich vorne gebeugt auf die orangefarbene Couch gesetzt, mit über den Knien verschlungenen Armen, sie blickte zu Boden. Sie sah so alt aus, so zerbrechlich. Ein totes Blatt, von Zeit und Gewissen zu einem Skelett aus Adern und Stiel verschlissen.

Nun war es heraus, das Geheimnis, das sie und die anderen zwanzig Jahre gehütet hatten. Ich sah sie ungerührt an. Fragend. Endlich fragend. Sie stand nur auf und ging hinaus.

Hinüber in den Hochsicherheitstrakt. Ein Ort, an dem ich nie gewesen war. Ein Ort hinter doppelt verschlossenen Türen und einer weiteren Wache. Sie ging an ihnen vorbei, als ob sie dies ein Leben lang getan hätte. Als wir vor einer Tür stehen blieben und sie ihre Schlüssel fand, schauderte ich. Und als wir das Innere des winzigen Raumes betraten und ich ihn dort liegen sah, begann ich zu zittern.

Wir standen für eine Weile dort, schwiegen.

“Sag mir,” begann ich schließlich, meine Stimme fester, als ich erwartet hatte, „sag mir, dass Du sie wenigstens nicht getötet hast.“

Sie sah auf, in ihren Brillengläsern brach sich das matte Licht aus dem Korridor und reflektierte es kreisförmig.

“Es gab einige Leute, die genau das tun wollten. Von dem Moment, als sie hier eintraf, gab es Druck von oben, jedes Detail über sie heraus zu finden. Wie genau sie sich von Menschen unterschied, in jeder nur denkbaren Facette ihres Selbst. Der einzige Weg, dies zu erreichen, war, sie zu zerlegen.“

Sie sprach diese Worte so klinisch aus, dass ich vor Abscheu schauderte. In meinem Magen breitete sich Übelkeit aus. Ich war hier aufgewachsen, umgeben von dieser klinischen Kälte. Die Männer und Frauen, die dazu fähig waren, ohne Gefühle und Gewissen einen kaltblütigen Mord zu begehen, waren dieselben, die mir meine Kindheit genommen hatten.

“Wir haben sie nicht getötet.” Beth sprach die Worte aus und sie hallten matt, immer schwächer werdend, von den Wänden wider. Ich schluckte, fürchtete weitere Lügen.

“Ich habe die Objekte gesehen. Die Fotos. Die endlose Katalogisierung ihres... Körpers.”

“Wir haben sie nicht getötet.” Sie wiederholte sich sachlich, als ob sich durch das erneute Aussprechen dieser Worte verhindern ließe, mir erklären zu müssen, *was* sie getötet hatte. Das Schweigen, das sich zwischen uns ausbreitete, sprach Bände. Ich schlang die Arme um mich, gab mir etwas Halt. Ich hatte einen Kloß im Hals.

“Ich war es.” War das wirklich meine Stimme? Sie klang so kalt. Beth musste nicht einmal nicken, ich konnte es aus dem Kummer in ihren Augen lesen. „Ich habe sie getötet.“

Mein Traum war jetzt klar. Es war nicht ich gewesen. Meine Mutter. Die Pein meiner Mutter. Meine Mutter, die nach dem rief, der von ihr getrennt worden war. Beths Stimme war sehr leise als sie sprach. Dünn.

“Ja, Dora, du warst das. Es gab Komplikationen. Schreckliche Komplikationen. Wir konnten die Blutungen nicht stoppen, weil wir natürlich nicht wussten, wie wir sie behandeln mussten. Sie starb einige Stunden nach deiner Geburt. Es gab einige hier, die sich daraufhin aus dem Projekt zurückzogen.“

In dem letzten Satz war soviel mehr Bedeutung, als die Worte sagten. Meine Mutter starb allein, an einem fremden Ort, umgeben von Menschen, die in ihr ein Tier sahen, das studiert und obduziert werden sollte. Sie hatte ein Kind in eine Welt geboren, von der sie wusste, dass diese nicht sicher war für ihr Neugeborenes. Und doch war es ihr nicht möglich, am Leben zu bleiben, um es zu beschützen.

Diese hässliche Ironie. Ich würgte daran. Ich war mit Recht hier hinter verschlossenen Türen gehalten worden. Mein Leben war wie totes ödes Land. Ich hatte meine Freiheiten, aber nur soweit die Leute hier sie mir gestattet hatten. Ich bekam Essen und Kleidung, aber keine Zuneigung. Die Möglichkeiten meines Geistes hatten sich entwickelt, aber meine Seele war verdorrt und gestorben. Wusste ein Säugling, wenn man ihn belog? Wenn er ihm etwas vorenthalten wurde? Ich denke, ich kannte die Antwort.

Schlussendlich schaute ich hinunter auf das Bett. John Crichton hatte sich nicht bewegt. Er schlief nicht, aber genauso wenig war er wach. Er war in dem gleichen Zustand, in dem ich ihn an diesem Fenster zum ersten Mal angetroffen hatte. Es schien Jahre her zu sein.

Wie in einem Traum bewegte ich mich vorwärts und setzte mich auf die Bettkante, nahm eine seiner schlaffen Hände in meine. Sie war warm und fest, umschloss meine mageren Finger.

“Verrate mir, warum er immer noch hier ist.” Ich sprach ausdruckslos, als ob nichts, was sie noch sagte, mich berühren konnte.

“Er weiß zuviel über das Projekt. Er ist im Weltraum gewesen, wir können nicht riskieren, dass die Leute seine Geschichten hören. Er würde uns bloßstellen. Und, am wichtigsten, er wurde in der Zeit, die er dort draußen verbracht hat, definitiv kontaminiert. Sein Körper ist voll außerirdischer Mikroben und Biotechnologie. Wir können uns nicht erlauben, ihn gehen zu lassen.“

“Und warum,” ich hielt einen Moment inne, schluckte, um das Zittern in meiner Stimme zu kontrollieren, „warum ist er so?“

“Eine Art der Abgrenzung.” Beth klang so alt. “Er rutschte da allmählich hinein, es begann vor etwa zehn Jahren. Anfangs versuchte er uns alle paar Monate zu entfliehen, aber als er merkte, dass dies nicht möglich war, wurde er immer depressiver und mutloser. Schließlich, Katatonie.“

Ich konnte es mir vorstellen. Ich hatte sein Foto gesehen, seine Akte gelesen. Ich sah ihn eingesperrt in diesem winzigen Käfig, hin und her laufend wie ein wildes Tier. Oh Gott.

“Wusste… wusste er von mir? Warum habe ich ihn nie gesehen, als ich hier aufwuchs?“

“Sie wurden getrennt, als die Special Ops sie vor vierundzwanzig Jahren hierher brachten. Er wusste von ihrer Schwangerschaft. Sie musste schwanger geworden sein, kurz bevor sie gefangen wurden.“ Sie seufzte. „Wir erzählten ihm, dass du zusammen mit deiner Mutter während der Geburt gestorben seiest. Man dachte, dies sei genug um ihm aufgeben zu lassen. Und so war es.“ Ihre Stimme klang müde. Ich fühlte kein Mitleid. “Ihr seid euch nie begegnet, weil wir dafür sorgten, dass er dir nicht über den Weg lief. Er hätte dich sofort erkannt, wie heute. Es hätte seinen Willen zu entkommen erneuert. Du siehst ihr sehr ähnlich, weißt du.“

Ich hatte ihr Bild gesehen. Ja.

“Es gab heute einen Fehler im Tagesplan, ihr hättet euch nie treffen sollen. Als ich sah, wie er nach dir griff, *wollte* ein Teil von mir, dass er wieder zu sich findet. Er war früher so stark. Lange Zeit haben wir ihn heimlich dafür bewundert.“ Ihre Worte zitterten leicht und ich konnte Jahre unterdrückter Schuld hinter ihnen hören. Offenbar hatte sie nie die gleiche Stärke gespürt wie er in seiner Überzeugung.

Ich blickte wieder auf ihm hinunter, auf den Mann, der mein Vater war.

“Du wusstest, was ich bin. Du wusstest, was ich bin, warum hast du mich gehen lassen? Warum hast du mich aufs College gehen lassen? Einen Job annehmen? Warum hast du mich dort hinaus geschickt, und mir vorgemacht, ich könne ein normales Leben führen?”

“Du wurdest die ganze Zeit beobachtet. Warst immer unter unserer Kontrolle. Es gab große Diskussionen, aber schlussendlich hat das Projekt dich großgezogen. Glaube es oder nicht, aber wir liebten dich.“

Was auch immer diese Leute als Liebe ansahen, es war etwas, das ich nicht erkennen konnte, irgendetwas. Keinesfalls genug.

“Einige wollten dich hier behalten, eingesperrt. Wir kämpften um die Erlaubnis, dich gehen zu lassen. Sie wurde gewährt, aber jedes Detail deines Lebens wurde überwacht. Wir kamen in wirkliche Schwierigkeiten durch deine Freiheit, Dora.“

“Und soll ich dir dafür danken?“ Meine Stimme klang schroff, bitter. Ärgerlich. Meine Emotionen waren ein auf und nieder durch das ganze Spektrum, aber in der Hauptsache spürte ich hellen Zorn. Die Taubheit, die mich mein ganzes Leben lang begleitet hatte, war verschwunden. Ich beugte den Kopf über die Hand meines Vaters und atmete tief ein, genoss meinen brennenden Zorn. „Warum du, Beth? Warum nicht Dr. Faber? Oder Dr. Ellerson? Verflucht, warum nicht Linda oder einer der anderen Pfleger?”

Sie schwieg für eine ganze Weile, das einzige Geräusch im Raum war das leise Summen der Frischluftzufuhr.

“Ich war verantwortlich für deine Überwachung.“

Verantwortlich.

Beth schwieg. Ich sah sie nicht an.

Schließlich: “Warum hast du mich hierher geführt, Beth?“ Meine Augen ruhten auf dem Gesicht meines Vaters, ich streckte eine Hand aus und berührte sachte seine Wange. Er war erst vor kurzem rasiert worden.

“Du weißt, warum. Ich liebe dich, Dora. Ich weiß, es bedeutet dir jetzt nichts mehr.” Ihre Worte klangen wässrig.

Sie würde uns gehen lassen.

Da war keine Euphorie, kein Triumph. Nur grimmige Entschlossenheit. Es gab nichts zu feiern. Nichts würde mir diese verlorenen zwanzig Jahre meines Lebens wieder geben oder den Horror, den er erlebt hatte, auslöschen. Nichts würde meine Mutter zurückbringen. Es gab nur noch John Crichton, und ich würde tun was ich konnte, um ihm wieder ein Leben zu geben, auch wenn ich sie ihm nicht zurückbringen konnte. Ich zog sachte an seiner Hand und er setzte sich automatisch auf, wie der Roboter, für den ich mich selbst immer gehalten hatte.

Als ich in seine einst schönen Züge blickte, in denen jede einzelne Furche von Schmerz und Leiden und dem Verlust seiner Liebe zeugte, spürte ich, wie mir erneut Tränen übers Gesicht rannen. Ich beugte mich vor und küsste seine Stirn. Als ich mich aufrichtete, bereit ihm aufzuhelfen, blinzelte er.

Ich erstarrte, erinnerte mich an die brennende Leidenschaft, die ich vorhin gesehen hatte, unsere Blicke trafen sich, hielten sich fest.

“Nicht, Aeryn.” Seine Stimme klang rau, weil er sie lange nicht benutzt hatte und aus uraltem Kummer. Sie hatte einen Hauch vom Akzent der Südstaaten, das Aroma tiefer Töne. Ich schüttelte den Kopf, schniefte ein bisschen und griff seine Hand fester.

“Mein Name ist Dora. Ich werde dich hier hinaus bringen.”

Seine Hand entwand sich meinem Griff, er hob beide Hände langsam und unsicher zu meinem Gesicht. Sie verharrten einen Moment, als fürchtete er mich zu berühren, bevor er mein Gesicht umfasste. Sein Daumen wischte vorsichtig meine Tränen fort, die nicht aufhörten zu fließen. Ich sah ihm noch immer in die Augen.

“Du siehst aus wie Deine Mutter,” sagte er sanft, staunend.

Ich musste trotz meiner Tränen lächeln. Mein Gesicht schien zu zerbrechen vor Freude, dass er mit mir gesprochen, mich erkannt hatte, und vor Leid über alles was passiert und was nicht passiert war. Als er mich in seine Arme zog und sein Gesicht an meinen Hals drückte, fühlte ich mich auf eine Weise vollständig, die ich nie für möglich gehalten hätte.

“Es tut mir so leid, dass ich so lange gebraucht habe, um dich zu finden.”

Das Flüstern hätte von uns beiden stammen können.

++++++

Mehr Wiedersehensfreude war uns nicht möglich.

“Wir müssen jetzt gehen, wenn du ihn hier raus bringen willst.” Beths Stimme klang nervös. “Bald wird die Nachtschicht abgelöst. Mit Sandy kann ich umgehen, aber Gerrold ist schwieriger.”

Er starrte Beth mit leerem Blick an. Hass flackerte in seinen Augen, während er sie ansah. Ich konnte nur erahnen, was er dachte. Was ich an seiner Stelle dächte. Ich half ihm auf die Beine, nahm seine Hand und führte ihn in den Korridor, hinter der kleinen plumpen Ärztin her.

“Ich kann ihn aus G-2 herausbringen, aber es wird wesentlich schwieriger sein, ihn durch Haupttor zu schaffen.“ Sie flüsterte, aber ich konnte sie gut verstehen. Ich klammerte mich an die Hand meines Vaters wie an eine Rettungsleine, hatte Angst ihn wieder zu verlieren, sobald ich losließ.

“Wir werden unser Glück versuchen.“ Meine Stimme war hart, ließ keine Widerrede zu. Ich konnte G-2 nun um mich spüren wie ein lebendes Wesen. Es fühlte sich schmutzig, böse und erbarmungslos an. Ich schauderte ein wenig, als wir an den ersten Sicherheitspunkt ankamen. Sandy war eine hart wirkende Frau mit ergrauendem Haar und Falten um den Mund.

Beth setzte die Miene auf, die ich mein Leben lang kannte, sie schaute nur kurz auf die Wache, als wir passierten. Sie gab einfach vor, jedes Recht der Welt zu haben, einen Patienten dorthin zu bringen, wohin es ihr beliebte. Sie hatte es auch, aber nur, wenn es dafür Gründe gab. Sandy machte da keinen Unterschied, sie nickte lediglich der Ärztin zu. Ich konnte kaum glauben, dass es so einfach sein sollte. Der Pessimist in mir warnte, dass es am Haupttor nicht so leicht werden würde. Sogar ich, die hier Monat für Monat ein und aus ging, hatte immer wieder Schwierigkeiten, die massiven Tore zu passieren. So unscheinbar wie die Gebäude der Schattenbasis wirkten, sie wurden beschützt wie Fort Knox.

Ich spürte, wie mein Vater zurück schreckte, als wir durch die Vordertür und auf die Stufen hinaustraten. Es war eher die Tatsache, dass er draußen war, als die Kälte. Ich fing schon wieder an zu weinen, als ich daran dachte, dass er seit über zwanzig Jahren nicht mehr unter freiem Himmel gewesen war. Ich wollte ihm Zeit geben, die Sterne zu betrachten, die ihm verweigert worden waren. Aber mir war bewusst, dass wir diese Zeit nicht hatten. Und ich spürte ein wachsendes Bedürfnis, diesem Ort so schnell wie möglich zu entfliehen.

Beth schälte sich auf dem Weg zum Parkplatz aus dem Mantel, den sie immer noch anhatte, und gab ihn mir. Ich legte ihn um Johns Schultern, die jedoch immer noch zu breit waren, um in Beths kurze Ärmel zu passen. Der Mantel bedeckte kaum den weißen Patientenkittel.

Wir ließen meinen Honda stehen und nahmen ihren größeren Acura. Ich atmete schneller vor Aufregung, als ich neben meinen Vater auf den Rücksitz krabbelte und immer noch seine Hand festhielt. Er schwieg und ich war froh darüber. Ich war nicht sicher, ob ich gerade sprechen konnte. Wenn wir erst einmal hier heraus waren, würden wir Zeit dafür finden.

Noch war es dunkel, aber es schien nicht mehr lange bis zur Dämmerung, als wir auf das Haupttor zu fuhren. Es war in helle Lichtkegel getaucht, zwei Wachen standen aufmerksam auf jeder Seite, voll bewaffnet. Ein weiterer Mann saß in der Wachkabine.

“Halt dich bereit, Dora.” Sie sprach leise, aber zum ersten Mal in dieser Nacht hörte ich wieder die stählerne Härte in ihrer Stimme.

Ich war gespannt, was Beth den Männern erzählen würde, als ich sah, dass sie in ihre Handtasche griff und eine Chemische Keule in ihrer Hand verbarg. Es schien beinahe lächerlich. Ich setzte an zu fragen, was genau sie zu tun gedachte, hielt mich aber zurück, als wir den Lichtkegel erreichten. Die beiden Wachen kamen zu beiden Seiten des Wagens näher, versuchten, durch die verdunkelten Seitenscheiben zu blicken, die Waffen griffbereit. Standardverfahren, das wusste ich, aber es war trotzdem entsetzlich. Mein Atem beschleunigte sich und ich musste mich zwingen, Johns Hand nicht zu fest zu drücken.

“Haben Sie und Dora alles erledigt, Dr. Pollson?“ Die Wache aus der Kabine war ans Fenster getreten, das Beth heruntergelassen hatte. Er hielt ein Schreibbrett in der Hand. Eine Waffe steckte in seinem geschlossenen Holster. Er runzelte die Stirn, lehnte sich hinunter und spähte durchs offene Fenster zu uns auf den Rücksitz. „Wer ist da bei Ihnen, Doc?“ Die Männer auf beiden Seiten des Autos wurden aufmerksam.

“Sie kennen doch Dora, Lieutenant.” Beths Stimme klang leicht spöttisch.

“Und Sie wissen, was ich meine, Doktor. Wer ist das da bei ihr? Sie beide sind allein gekommen. Und Sie kennen die Vorschriften. Sie brauchen eine Vollmacht, um einen Patienten mitzunehmen.“

“Sicher brauche ich die. Ich habe sie hier.“ Sie drehte ihre Tasche und zog etwas heraus, das wie ein einfaches gefaltetes Blatt Papier aussah. Ich verkrampfte mich, sicher, dass nun alles vorbei war. Beth übergab ihm das Papier und als er danach griff, stieß sie mit aller Kraft die Fahrertür auf. Die Lieutenant stolperte rückwärts, krachte in die Kabine und schlug die Tür auf.

Und Beth, rund, klein, ergraut, wie sie war, warf ihren kleinen Körper durch die offene Tür in die Kabine.

“FAHR, Dora!” Sie schrie und ich gehorchte. Ich handelte automatisch, stürzte mich über die Sitzlehne und zwängte mich hinter das Lenkrad, als Schüsse in meinen Ohren dröhnten. Ich sah Beth wie eine Marionette zucken, rote Löcher in ihrem lavendelfarbenen T-Shirt, aber sie war innerhalb der Kabine und ihre Hand schlug auf den Toröffner.

Es begann sich ratternd zu öffnen und ich trat aufs Gaspedal, als die Heckscheibe in ein Meer aus Glassplittern und Kugeln zersprang. Ich duckte mich, hielt den Atem an und lenkte den Wagen vorwärts, den Fuß auf dem Gas als sei es ein Rettungsanker. Ich roch verbranntes Reifengummi und den Gestank des Rauches aus den Waffen, als ich auf das Tor zuschoss, das sich nicht schnell genug öffnete. Das Auto machte einen Satz, als wir das Tor an beiden Seiten streiften, Metall kreischte auf Metall, beide Außenspiegel flogen weg und ein großer Teil des Lacks splitterte ab.

Aber dann waren wir frei.

Ich konnte das Heulen der Sirenen hören, die Scheinwerfer entlang des Zaunes flammten auf, als die Wachen den Alarm auslösten. Ich fuhr einfach weiter. Der Himmel wurde schon heller und in der Dunkelheit würde man uns schwerer finden, und wir mussten es einfach schaffen. Es gab keine Alternative. Keiner von uns würde zurückkehren.

“Bist du in Ordnung?” keuchte ich, als ich endlich wieder in der Lage war zu sprechen, meine Augen weiter auf die Straße gerichtet. Ich bekam keine Antwort und riskierte einen Blick nach hinten. Mein Vater saß zusammengesunken auf der Rückbank, Blut rann träge über seine Brust.

+++

Es schien eine Ewigkeit zu dauern bis ich endlich einen Platz fand, an den ich mich traute zu parken. Ich wusste, dass sie bereits hinter uns her waren, aber ich konnte ihn nicht verbluten lassen, wenn er nicht sogar schon tot war. Ich verspürte große Erleichterung, als ich entdeckte, dass er noch lebte.

Wir waren mitten in einem Wohngebiet, als wir einen verlassen Park mit einem kleinen See fanden. Ich half ihm, aus dem Auto zu steigen und sich an einen Baum zu setzen, bevor ich den Wagen mühsam über einen Bootssteg ins Wasser schob. Nach dem Wagen würden sie als erstes suchen und ich wollte ihn so schnell wie möglich loswerden. Ich hatte nichts anderes als die Überreste von Beths Mantel, um die Wunden meines Vaters so gut es ging zu verbinden. Ich war keine Ärztin, aber ich sah, dass die Kugeln durch ihn hindurch gegangen waren, eine durch die Schulter, eine andere durchs Schlüsselbein. Es waren ernste Wunden, aber in ein Krankenhaus konnte ich ihn nicht bringen. Ich konnte nur hoffen. Und Hoffnung war niemals genug.

Er starrte hinaus auf den See, während ich seine Wunden verband, etwas in seinem Blick, das ich nicht greifen konnte. Als er sprach, schrak ich zusammen.

“Dora. Das ist ein hübscher Name. Ich frage mich, warum sie ihn dir gegeben haben.” Ich strich mit zitternden Fingern sein Haar zurück. Ich wusste, dass er starb. Und er wusste es auch.

“Ich weiß nicht.” Ich konnte nur flüstern. Er sah zu mir auf, streckte die Hand aus und strich mir eine Haarsträhne hinters Ohr.

“Deine Mutter wäre sehr stolz auf dich, weißt du.”

Wäre sie? Ich war mir da nicht sicher, ich zitterte und war innerlich ein heulendes Elend.

“Ich wünschte ich hätte sie gekannt.” Meine Worte klangen matt, entfernt. So, wie ich mich immer gefühlt hatte, wie diese Farce, die mein Leben war. Ich wollte ihm sagen, wie ich mir wünschte, auch ihn gekannt zu haben. Aber ich verzweifelte schier an der Aussicht, jetzt keine Möglichkeit mehr dazu zu bekommen.

Die Vögel begannen zu singen, zwitscherten und hüpften durch die Bäume. Weiter entfernt am Seeufer hörte ich einen Hund bellen und einen Automotor starten. Der Morgen war frisch und klar mit einigen Wolken am Horizont. Der erste Tag meines Vaters in Freiheit hatte eine achtzigprozentige Chance auf Regen.

“Wir fahren nach Maine, Dora. Ich zeige dir den Weg.“

Maine?

Ich brauchte eine Weile, bis ich ein anderes Auto fand, und er zeigte mir, wie ich es kurzschließen musste. Ich fragte nicht, woher er solche Sache wusste, ich wollte nur so schnell wie möglich raus aus DC. Nur einmal dachte ich an Beth, als wir schon seit 300 Meilen unterwegs auf Seitenstraßen waren.

Es war keine wirkliche Trauer, die ich fühlte, eher Verlust. Sie war gestorben, um mir zu helfen, das wusste ich. Ich vermutete, es war ein Beweis ihrer Liebe zu mir. Ich würde ihr nie verzeihen, was sie meinen Eltern angetan hatte, aber ich konnte versuchen, sie nicht zu hassen. Es war das Beste, was ich jetzt noch tun konnte. Ich hatte keine großzügige Seele.

Wir fuhren bis in die Nacht, hielten nur selten an, um seine Verbände zu wechseln. Ich traute mich kaum anzuhalten, außer für Benzin oder um nach Anweisungen meines Vaters die Nummernschilder zu wechseln. Ich bezahlte alles mit Bargeld aus Beths Portemonnaie. Es war nicht viel, aber genug, um nach Maine zu kommen.

Wir schafften es gerade rechtzeitig. Nachdem ich das Auto über den Rand einer Klippe geschoben hatte musste ich meinem Vater helfen, die letzte Meile zur Hütte zu laufen, die am Ende eines schmalen schlammigen Pfades stand. Die letzten Sonnenstrahlen dieses Tages glitzerten auf dem Wasser des Sees vor ihr, hohe duftende Kiefern standen um uns herum. Ich war noch nie aus DC herausgekommen und es war so wunderschön hier.

Er war so schwach, jeder Atemzug, jeder Schritt war eine Plage. Es war dunkel, als wir die Hütte betraten und ich half ihm, sich auf eine alte mottenzerfressene Couch zu setzen. Seine Augen waren geschlossen, sein Gesicht kalkweiß und seine Haut fühlte sich eiskalt an. Er hatte eine Menge Blut verloren. Ich legte eine alte Steppdecke um ihn und kniete neben ihm in der Dunkelheit. Ich wagte es nicht, Feuer zu machen. Nicht, weil jemand es hätte bemerken können, sondern weil ich fürchtete, er könnte sterben, ohne dass ich bei ihm war.

Ich strich ihm über die Stirn und küsste seine aschfahle Wange. Als er seine Augen öffnete und mich ansah, wusste ich, dass der Tod nah war. In meiner Kehle war ein Knoten. Ich wünschte mir fast meine dumpfe Taubheit zurück, um nur nicht diese schreckliche Pein zu erfahren. Diese alles verzehrende Einsamkeit. Er sprach nicht, lächelte mich nur an und berührte meine Lippen. Dann wurde seine Hand schlaff und das schwache Licht in seinen Augen erlosch.

Ich kniete dort eine lange Zeit, hielt seine Hand. Vergoss keine Träne. In meinem Herz war ein entsetzlicher, verzehrender Schmerz, das Gefühl, dieses ganze leere Leben stürze über mir zusammen. Bedeutungslos. Ich hatte nur ihn in meinem Leben gehabt, und nur für einige wenige Tage. So wenig Zeit.

Zeit.

Ich zog Luft ein, meine Hände fielen nach unten, ich legte den Kopf in den Nacken, sah die dunklen Dachbalken und sah sie doch nicht. Meine Finger lagen in meinem Schoß, ineinander verschlungen wie Wurzeln. Opferte für ein Leben, das niemals sein sollte. Opferte für etwas, das verloren war. Ich schloss meine Augen und ließ einfach los...

Die Welt wurde aufgetrennt, wie der lose Faden eines Pullovers. Alles um mich, die Hütte, zerfiel zu Staub und kehrte zurück. Ich gestattete mir nicht, es dieses Mal wieder zu beenden. Ich fiel hinein wie Alice in das Kaninchenloch. John Crichtons Körper wurde vor meinen Augen zu Staub, der Rhythmus des Waldes hämmerte und pochte in meinen Adern, das leise Donnern und der ganze Lärm des Universums klappten zusammen, verschraubten sich in sich selbst. Hier war alles verändert worden. Hier hatten sich die Zeiten verzweigt. Es war so einfach, dachte ich gleichgültig. So unglaublich einfach, das ein Kind es gekonnt hätte. Ich drehte einen geistigen Schlüssel und trat durch die verborgene Tür, wo Zeit und Zeit sich berührten und brachen.

Und fand mich kniend auf dem staubigen Fußboden neben einer leeren Couch wieder.

Es war fast nichts mehr von mir übrig. Die Anstrengung, meinen Körper durch das Gewebe der Zeiten zu bewegen, hatte mich fast bis zur Durchsichtigkeit ausgetrocknet. Es hatte so einfach gewirkt. Meine Muskeln gaben einfach auf und ich fiel mit einem schwachen Geräusch auf den Holzboden. Ich konnte kaum fassen, was ich gerade getan hatte. Nur ein kleiner Teil von mir schien zu verstehen, was ich hier versucht hatte.

Alles um mich verschwamm, alles was mich ausmachte. Ich konnte kaum meine Haut spüren, meine Wahrnehmung flirrte am Rand des Abgrunds, aufkommende Bewusstlosigkeit. Aber ich musste noch ein wenig wach bleiben. Ich fühlte, dass mir nur wenig Zeit blieb.

“Frell, wer ist da?” Die Stimme war ein leises Brummeln, das von dem Dachboden oberhalb einer Leiter kam. Ich bemühte mich nicht zu verstehen, was „frell“ hieß oder mich darüber zu wundern, dass ich Erfolg gehabt hatte. Ich musste meine letzten Kräfte schonen, um meine Warnung zu überbringen. Beeilt euch, drängte ich im Stillen. Bitte, bettelte ich.

Rascheln, ein gemurmeltes Gespräch schienen von weit her zu kommen, wie auch das Knarren der Leiter, als jemand hinunter stieg.

„Was zum...“ War das Licht? Eine nackte Glühbirne hing von der Decke, warf dunkle Schatten durch den Raum. Ich konnte meinen Kopf nicht hochheben. Ich konnte kaum noch den Brustkorb heben um zu atmen. Beeilt euch.

„Wer ist das, John?“ Die neue Stimme war scharf, knapp. Gereiztheit und Angst schwangen in ihr mit. Eine warme Hand drehte mich herum und ich brachte es fertig, die Augen zu öffnen um sie anzusehen. Er war jung und schön wie auf dem alten Foto. Sie sah aus wie ich. Ich lächelte, zu schwach zum Weinen.

„Hezmana!” Die Frau fluchte, eine Hand auf ihrem Mund, blaue Augen, von derselben Farbe wie meine, weiteten sich.

„Jesus, Aeryn, sie sieht genauso aus wie du!“

„Nicht… ganz. Sie hat deinen Mund.“ Unglauben und Verwirrung in beiden Gesichter, in ihren Worten. Meine Mutter war neben mir auf die Knie gesunken und ich genoss, dass ich sie wenigstens dieses eine Mal sehen konnte. Mein Herz begann langsamer zu schlagen, Blut in meine Gliedmaße zu pumpen wurde anstrengend. Alles wurde unscharf. Mir blieb hier keine Zeit mehr in diesem Leben, das nicht hätte sein sollen.

“Wer bist du?” Seine Stimme hallte in meinen Ohren wider. Ich war nur noch in der Lage, eine begrenzte Anzahl Worte zu sprechen, aber ich wollte, dass sie meinen Namen erfuhren. Es schien mir unglaublich wichtig.

„Ich bin Dora. Ihr müsst gehen.” Meine Stimme war kaum hörbar und beide mussten sich über mich beugen, um sie zu hören. „Ihr. Müsst. Gehen. JETZT.” Mein Atem stockte und ich schloss meine Augen. “Bitte. Lauft. Sie kommen.”

Das Atemanhalten des Mannes, der mein Vater sein würde, der mein Vater gewesen war, war das Schönste, was ich je gehört hatte. Er verstand. Irgendwie hatte er verstanden. Vielleicht nicht, wer ich war, aber zumindest meine Nachricht.

„Keine Zeit mehr.”

Ich wusste nicht, ob ich diese letzten drei Worte laut ausgesprochen hatte. Ich nicht mehr sehen. Ein unbeschreiblicher Friede überzog mich wie ein großes Tuch... dann verschwand alles in Dunkelheit.

~o~o~o~o~o~o~o~o~o~

Epilog:

Es herrschte Stille im Schiff, als sie durch die Gänge rannte, ihre nackten Füße klatschten ein Stakkato auf die weichen Böden. Sie war außer Atem vom Rennen, langes dunkles Haar wehte hinter ihr. Der ihr voraus flitzende DRD jammerte vor Anstrengung, ihren kleinen, verspielten Händen zu entkommen. Er stürzte sich in eine Wartungsspalte und sie ließ sich auf die Knie fallen, um sofort in dem Loch nach ihm zu greifen, um sie mit einem kleinen Schrei wieder heraus zu ziehen. Er hatte nach ihr geschnappt.

Sie schlug mit der flachen Hand frustriert auf den Boden, beugte sich vor und spähte hinein. Der DRD war noch dort, mechanische Augen glühten, als er sie aus der Sicherheit heraus beobachtete. Sie runzelte die Stirn, schob verärgert ihre Unterlippe vor, als sei die Macht ihres Ärgers genug, um ihn aus dem Loch heraus zu locken. Er rührte sich nicht.

Wenn auch empört, stand sie schließlich wieder auf und setzte ihren Weg durch den Gang fort, ihre Hände glitten über die Rippen und Grate der Wand, ihre Augen suchten nach dem nächsten DRD.

Stimmen hinter der nächsten Biegung ließen sie stoppen. Obwohl sie wusste, dass sie nicht lauschen durfte, konnte sie einfach nicht widerstehen, als sie ihren Namen hörte. Ihre Eltern sprachen dort vorne leise mit Zhaan.

„Ich schwöre dir, Zhaan, Dora war dafür verantwortlich. Ich konnte es in ihren Augen sehen.“ Die Stimme ihrer Mutter klang wütend, sie hasste es, angezweifelt zu werden.

„Es war eine Anomalie, meine Liebe. Ich weiß nicht, wie du darauf kommst, dass ein kleines Kind die Kraft hat, Raum und Zeit zu verändern wie ein Wurmloch, aber...“

„Sie hat es getan. Sie sah schuldbewusst aus.” Das war jetzt ihr Vater. Sie biss sich auf die Lippe und drückte sich näher an die Wand.

Das Seufzen kam sicher von der Delvianerin.

„Gut, wenn ihr so überzeugt seid. Sagt mir, was glaubt ihr, wie sie das gemacht hat? Natürlich sollten Eltern einen übertriebenen Stolz für ihre Nachkommen empfinden, aber das grenzt an Dummheit.“ Trotz ihrer Worte klang die Priesterin ehrlich neugierig.

„Ich weiß es nicht.“ Das war wieder ihr Vater, Rebellion in seiner Stimme. „Vielleicht, weil wir durch dieses Wurmloch geflogen sind vor sechs Jahren auf dem Rückweg von der Erde. Aeryn war damals schwanger, und wir wussten es nicht.“

Zhaan machte ein leises kehliges Geräusch.

„Es heißt, ein Wurmloch verzerrt die Zeit, faltet sie. Ich denke, ihr habt bewiesen, dass dies so ist. Aber obwohl ich weiß, dass ein ungeborenes Kind beeinflusst werden kann, das hier ist doch etwas weit hergeholt.“

„Ich habe keine andere Erklärung, Blue. Alles was ich weiß, ist, dass sie es kann. Alles was ich *möchte*, ist, dass du es weißt. Uns wenn es wieder passiert, dann wissen wir vielleicht mit Sicherheit...“ Ihr Vater unterbrach sich mitten im Satz und das bedeutete nichts Gutes. Sie wandte sich zur Flucht, aber es war schon zu spät. Hände schlossen sich um ihre Taille und sie wurde kreischend hoch in die Luft gehoben.

„Um Hezmanas Willen...“ Sie konnte ihre Mutter nicht sehen. Alles was sie sah, waren ihre Haare und der Rücken ihres Vaters, als er sie sich über die Schulter warf und sie in Zhaans Kammer schleppte. „Diese Mädchen ist entsetzlich.“ Die Stimme ihrer Mutter klang liebevoll trotz ihrer harten Worte.

„Das ist sie wirklich.“ Dora spürte, wie ihre Knöchel gepackt wurden, sie wurde hochgehoben, wandt sich, und hing trotzdem kopfüber vor ihrer Mutter, die böse lächelte.

„Was haben wir dir über das Belauschen der Gespräche von anderen gesagt?“

„Nichts.“ Sie klang zaghaft, ihre blauen Augen voller Unschuld. Ihr Vater hob sie noch höher und plötzlich begann ihre Mutter sie wild zu kitzeln. Sie quiekte wie ein Kobold, wandt und verdrehte sich, um den gnadenlosen Fingern zu entkommen. Dann hörte das Kitzeln plötzlich auf und das Quieken wurde zu Gekicher und Schluckauf.

„Wie war das noch mal?“ Die Hände waren immer noch da. Sie versuchte ihr Glück kein zweites Mal.

„Ich soll das nicht.“ Sagte sie, sich immer noch windend. Ihr Gesicht wurde rot vom nach unten hängen. Ihr Vater drehte sie wieder um und stellte sie auf ihre Füße. Sie versuchte zu lächeln, bevor sie zur Tür hinaus flitzte. Es war Zeit, den Rückzug anzutreten.

Sie konnte sie noch lachen hören, als sie den Gang hinter rannte. Kurz bevor sie außer Hörweite kam, hörte sie Zhaan.

„Eines ist sicher, wenn sie sich an Zeit und Raum zu schaffen machen *kann*, dann gnade uns die Göttin.“

Als sie außer Reichweite war, bremste sie an der nächsten Kreuzung ab, strich sich das lange Haar zurück hinters Ohr und suchte beide Gänge ab. Ein DRD beobachtete sie und mit einem leisen elektronischen Quieken drehte er sich um und eilte den Weg zurück, den er gekommen war. Sie lächelte, der Vorsprung war diesmal zu groß. Sie würde einen anderen, weniger aufmerksamen zum Spielen finden. Abendessen gab es erst in vier Arns.

Sie hatte viel Zeit.

Ende