Zitat Zitat von Sepia
Okay. Warum kenne ich keinen Sudanesen, aber dafür US-Amerikaner? Weil US-Amerikaner die Möglichkeit haben nach Europa zu reisen (und dies auch tun), Sudanesen hingegen nicht. Warum haben Sudanesen nicht (in dem Ausmass wie US-Amerikaner) die Möglichkeit nach Europa zu reisen...?
Es bestreitet ja keiner, daß unser engerer Kontakt mit England (abgesehen von geographischen und kulturellen) auch wirtschaftliche Gründe hat. Ich finde nur, daß man nicht sagen kann, die Medien berichteten mehr über London, weil dort eben die 'wirtschaftlich bedeutsameren' Leute wohnten. Die Medien berichten mehr über London, weil es uns näher geht. Die Medien richten sich in ihrer Berichterstattung normalerweise danach, was ihre Leser und Zuschauer besonders interessiert, und die Leser/Zuschauer interessiert nun einmal das am meisten, was sie irgendwie 'persönlich' betrifft, entweder, weil es ihr eigenes Leben betrifft oder sie sich vorstellen können, daß es ihr Leben betreffen könnte, oder weil es Leute betrifft, die ihnen in irgendeiner Weise nahgestehen. Es ist nun mal sehr schwierig, sich über Jahre und Jahrzehnte hinweg immer wieder von den natürlich viel größeren humanitären Katastrophen schockieren zu lassen, die z.B. in Afrika an der Tagesordnung sind. Mit der Zeit gewöhnt man sich daran, daß dort immer wieder in Massen gestorben wird - oder zumindest habe ich das, und sicher auch viele andere, obwohl es Leute geben mag, die ihrer eigenen emotionalen Abstumpfung besser Einhalt gebieten konnten als ich. Das heißt jetzt nicht, daß ich (und vermutlich auch die anderen Leute, die sich emotional nicht mehr so leicht berühren lassen) denken, Afrika sei irrelevant und die Menschenleben dort sowieso nichts wert. Es ist einfach nur eine Schutzhaltung, weil man sonst nämlich ganz einfach an der Menschheit verzweifeln müßte.

Ich will hier auch gar nichts rechtfertigen - nur versuchen, zu erklären, wie es zu einer so heftigen Reaktion wie auf die Londoner Anschläge kommt, wenn viel größere Unglücke in anderen Weltgegenden nur ein Achselzucken der Allgemeinheit hervorrufen. Einfach zu sagen 'na, das liegt natürlich daran, daß die Leute in Afrika arm, also unwichtig für die Medien und die Bevölkerung in den industriell hochentwickelten Ländern sind, während die Leute in London reich, also wichtig sind," greift meines Erachtens einfach viel zu kurz.

(Vielleicht sollte man in meinem Beispiel 9/11 auch mit den japanischen U-Bahn-Giftgas-Anschlägen ersetzen.)
Und damit lieferst Du mir gerade ein recht gutes Gegenargument gegen Deine Sichtweise, daß die ökonomische Bedeutung der Toten über unsere Reaktion bestimme. Die Japaner sind eine der wichtigsten Wirtschaftsmächte; dennoch kann ich mich an keine so emotionale Reaktion auf die Sarin-Anschläge erinnern, wie sie die Londoner Anschläge hervorgerufen haben. Korrigier' mich, wenn meine Erinnerung mich trügt, aber ich meine, damals gab es keine Schweigeminuten usw., und der Aufschrei der Empörung war insgesamt irgendwie geringer. Die Schweigeminute finde ich übrigens ziemlich überflüssig - sie erweckt nämlich *wirklich* den Eindruck, als seien die Toten von London wesentlich 'wichtiger' als beispielsweise die Kinder, die gerade im Irak getötet wurden. Oder wollen wir am Tag drauf für die Kinder im Irak schweigen, und am Tag drauf für die Toten wer weiß wo? Das fände ich nun wieder irgendwie gut, aber auch da würde sich der Effekt bald abnutzen - der Mensch ist leider nicht dazu gemacht, permanent moralisch entrüstet zu sein, so sehr das wünschenswert wäre, um in der Politik mal was zu bewegen.