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Thema: Erinnerungen (zum Jahresende)

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    Forum-Aktivist Avatar von Reiner
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    Standard AW: Erinnerungen (zum Jahresende)

    Und das urteilte noch 2002 in der FAZ (Frankfurter Allgemeine Zeitung) nach dem Absetzen von FARSCAPE:


    Captain Kirk hatte mehr Glück

    Auf, auf, zum Marsch nach Washington: Wie die Fans der
    Science-fiction-Serie "Farscape" ihr Juwel retten wollen

    So also hat man sich das vorzustellen, wenn Zivilcourage und
    Medienbewußtsein sich im Kampf gegen Senderunrecht amalgamieren: Eine
    wortgewaltige Schriftstellerin namens Caitlin R. Kiernan, deren Romane und
    Erzählungen (unter anderem "Silk" und "Threshhold") unter Kritikern
    zeitgemäßer dunkler Phantastik viel gelten, gibt, weil sie weiß, wie das
    geht, soviel Pedal wie möglich und schreibt aus dem Stand einen
    ergreifenden Aufruf zugunsten einer bedrohten, inzwischen wohl endgültig
    abgesetzten Fernsehserie auf dem amerikanischen Spartenkanal
    "Sci-Fi-Channel" namens "Farscape", schwingt öffentlich Reden zur Sache und
    macht mit der Aufforderung, den Text so schnell wie möglich so weit wie
    möglich zu verbreiten, das halbe Internet verrückt.

    "Farscape", ein in Deutschland bisher rund zwei Jahre lang von Sat.1
    gezeigtes, prinzipiell unendliches Fortsetzungsepos um die Abenteuer eines
    bei astronavigatorischen Experimenten in Erdnähe durch ein Wurmloch ans
    andere Ende des Kosmos gesaugten Astrophysikers namens Crichton, seines
    lebenden und denkenden Raumschiffs Moya und eines ausladenden
    Humanoidariums kulturell, kognitiv und sozial äußerst fremdartiger
    Außerirdischer, ist, schreibt zumindest Kiernan, nicht einfach nur - was
    wenige Kenner bestreiten würden - bestes phantastisches Bildschirmkino auf
    der Höhe der Zeit, sondern "im Gegensatz zum allermeisten, womit wir durch
    die Leuchtröhre abgespeist werden, Kunst. Ich weiß wohl, daß ,Kunst' für
    einige Leute in der Science-fiction-Fangemeinde ein schmutziges Wort ist -
    aber andererseits sind schmutzige Wörter etwas, wovor man sich bei
    ,Farscape' nie gefürchtet hat; man war nicht einmal darum verlegen, sich
    für die Serie eigene schmutzige Ausdrücke auszudenken, um die ver@%$§ten
    Fernsehzensoren zu überlisten."

    "Farscape", soviel steht fest, Kunst hin oder her, war seine vier
    bisherigen Staffeln lang fast ohne Ausrutscher und Durchhänger
    intelligentes, amüsantes, originelles Fernsehen - erwachsen, dialogbewußt,
    sexy (Claudia Black, Darstellerin der streitbaren Crichton-Partnerin Aeryn
    Sun, hat eben erst einen britischen Zuschauerpreis als attraktivste Frau im
    "Genrefernsehen" gewonnen und eher verwundert angenommen) und vor allem neu
    in seiner Darstellung von Außerirdischen, die statt Ausländer mit
    Latexmasken wirklich Geschöpfe waren, deren Motive sich kaum auf etwas, was
    wir kennen, zurückführen ließen und deren Charaktere sich nicht in ihrer
    Haltung zum menschlichen Helden ("Freund" oder "Feind") erschöpften.

    Die Absetzung hat nicht nur Kiernan auf den anklägerischen Plan gebracht:
    Zuschauer demonstrieren friedlich, aber unter Tränen vor dem Sender, der
    erklärt hat, das Ende der Sendung läge an undurchsichtigen Finanzengpässen.
    Die Entscheidung scheint irreversibel, im Augenblick kämpfen die Fans auf
    Websites wie der neu eingerichteten "www.savefarscape.com" nicht mehr um
    eine Fortsetzung im gewohnten Rahmen, sondern um die Freigabe der Rechte
    und einen Neustart bei einem anderen Sender. Die ganze Situation ist mit
    mehr Pathos aufgeladen als die Oberammergauer Passionsspiele: Für den
    vorgestrigen Samstag hatte das strategische Oberkommando der
    Schadensbegrenzer eine landesweit koordinierte Reihe von Rallyes an
    symbolträchtigen Orten der Vereinigten Staaten organisiert, darunter der
    Vorplatz des Nationalen Luft- und Raumfahrtmuseums in Washington.

    Wie selten und inspirierend das ist, was sich da auf dem Schauplatz einer
    Popkultur abspielt, die ihr massendemokratisches Versprechen in Wahrheit
    nur sehr selten gegen den Willen einer nahezu allmächtigen, rein
    angebotsorientierten Kulturindustrie behaupten kann, wie außergewöhnlich
    der Fall ist, so deprimierend er wahrscheinlich ausgeht - das alles kann
    man sogar in Jahren messen. Das letzte Mal nämlich, daß so etwas aus
    vergleichbarem Anlaß geschah, datiert auf den Dezember 1966 zurück, vor
    nunmehr sechsunddreißig Jahren.

    Damals versammelte der hyperaktive Literat, Erzähler und
    Hollywood-Drehbuchautor Harlan Ellison ein "Komitee" um sich, das neben
    illustren Namen aus der Welt der literarischen Filminspiration wie Richard
    Matheson ("The Incredible Shrinking Man") und Robert Bloch ( "Psycho") auch
    von der Kritik gerühmte Autoren phantastischer Literatur auf die Beine
    brachte, darunter den Ikonoklasten Philip José Farmer und Theodore
    Sturgeon, der in seinen Kurzgeschichten als erster sprachliche und
    bildliche Vexierspiele um das Angstthema "Sexualität" in die
    technikverliebte amerikanische Phantastik einführte. Zweck der so
    hochkarätig besetzten Kabale, die sofort nach Gründung mit der forcierten
    Herstellung von Formbriefen und der Ausübung wohldosierten Telefonterrors
    begann, war die Rettung einer zu diesem Zeitpunkt unmittelbar von
    quotenbedingter Absetzung bedrohten obskuren Serie über menschliche und
    nicht ganz so menschliche Astronauten in der fernen Zukunft, die mit einem
    Raumschiff namens "U.S.S. Enterprise" aufgebrochen waren, um neue Welten,
    neues Leben und neue Zivilisationen zu erforschen: "Star Trek".

    Die Logistik, der sich die militanten Freunde von Mister Spock und Captain
    Kirk bedienten, um die nach Quotenmaß wie angeschossen hinter zahlreichen
    weit weniger aufregenden Serien herhinkende Show zu retten, hätte für einen
    echten Aufbruch ins Weltall gereicht: Die Empfänger gleich des ersten
    Rundschreibens, sowohl in Fankreisen bereits namhafte Personen wie
    sympathisierende Meinungsmultiplikatoren, wurden mit präzisen strategischen
    Vorgaben aufgefordert, ihrerseits Protestbriefe zu schreiben: "Wichtig:
    benutzen Sie keine Formbriefe, vermeiden Sie die in diesem Schreiben
    benutzten Wendungen" - und senden Sie die an "a.)Lokale Sendeanstalten, die
    ,Star Trek' ausstrahlen, b.) Sponsoren und Anzeigenkunden, c.) lokale und
    überregionale Fernsehkolumnisten der Zeitungen und d.) an ,TV Guide' und
    andere Fernsehmagazine".

    Daß das Unternehmen Erfolg hatte, beweisen heute zahlreiche, nicht immer
    sonderlich inspirierte Klone der Star-Trek-Mutterserie von "Deep Space
    Nine" bis "Voyager", gegen die sich gegenwärtig frische, gescheite
    Konkurrenten wie eben "Farscape" oder die angesichts der soeben
    ausgestrahlten Pilotfolge sehr vielversprechende neue Weltraum-,
    Kolonisations- und Verstrickungsserie "Firefly" des "Buffy"- und "Angel"-
    Erfinders Joss Whedon behaupten müssen.

    Nach dem Ende von "Akte X", der großen Ufo-Verschwörungsoper, die in den
    neunziger Jahren visuell und erzählerisch Maßstäbe gesetzt hatte und
    zuletzt leider zunehmend der leeren Gebetsmühlenautomatik ihrer zentralen
    Themen und Motive erlegen war, konnten Freunde des Genres in "Farscape"
    vier Staffeln lang die große Wohnzimmerhoffnung spekulativer Popkunst aus
    dem Geist der technischen Romanze liebgewinnen. Wenn, wie die Retter
    wollen, eine Wiederbelebung gelingt - oder wenigstens ein abschließendes
    "Special", das die wichtigsten Handlungsfäden zum den Abschied
    erleichternden Knoten schürzt -, hätten die Fans auf vergleichsweise
    billige Weise die Kulturindustrie gezwungen, ausnahmsweise ein Wort über
    die Lippen zu bringen, das man dort ansonsten planmäßig zu hassen scheint:
    Nachfrage.

    DIETMAR DATH
    Frankfurter Allgemeine Zeitung, 07.10.2002, Nr. 232 / Seite 40

    --------------------

    Happy End:
    Eine sehr gut geschriebene Beurteilung, und ja Herr Dath ... die Fans haben es tatsächlich noch geschafft!

    Geändert von Reiner (16.12.2006 um 17:22 Uhr)
    "Glaubst Du noch, oder denkst Du schon?" Giordano Bruno / "Zwei Dinge sind unendlich, das Universum und die menschliche Dummheit, aber bei dem Universum bin ich mir noch nicht ganz sicher." Albert Einstein. /"Ich kann zwar die Bewegungen von Himmelskörpern berechnen, aber nicht die menschlichen Verrücktheiten." Sir Isaac Newton. / Das Mitlesen in diesem Beitrag ist verboten, wenn Ihr zu jung dafür seid. https://anchor.fm/reiner-krauss/

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