Kapitel IX – Route 99

Joon Yemai stand jetzt als der Böse da. Dass er sich auf niemandes Seite beim Familienstreit vor ein paar Tazuras geschlagen hatte, wurde ihm von jedem in der Familie vorgehalten. Allen voran natürlich von seiner Mutter, die ihm vorhielt, dass er nicht zu seinem eigen Fleisch und Blut stand. Was soll’s. Jetzt war er wieder im Weltraum und die Geschichte bereitete ihm trotzdem noch Magenschmerzen. Er saß auf der Toilette mit heruntergelassenen Hosen und drückte was das Zeug hielt. Schweiß war auf seiner blassen Stirn und zitternd durchsuchte er einen kleinen Erste Hilfe Koffer, der auf seinem Schoß lag. Hier musste es doch was geben, was gegen Durchfall und Übelkeit helfen konnte. Ein paar Tabletten und Tropfen später wanden sich Joons Gedärme vor stechendem Schmerz. Überall zog und brannte es. Diese scheiß Familie. Warum mussten sie sich bis aufs Blut wegen jeder Kleinigkeit bekämpfen? Yoon hatte es satt und nahm sich vor nie wieder zurückzukehren, aber er befürchtete, dass er dieses Vorhaben nicht halten konnte.

Mehr in einer Traumwelt als im realen Hier und Jetzt begab sich Joon wieder in das Cockpit. Er setzte sich in den Stuhl des Piloten und wischte sich als erstes den kalten Schweiß aus dem Gesicht. Langsam wieder in die Realität zurückfindend erhöhte er die Temperatur im Cockpit auf 30 Grad Celsius und fiel dann in einen unruhigen Schlaf.

Plötzlich ging eine Erschütterung durch das Schiff, die Joon weckte. Er setzte sich sofort anständig in seinen Pilotensitz und entsperrte die Kontrollen. Alle Anzeigen standen auf grün. Die Schilde hielten. Aber was war es? Ein Sensorscan später war die Antwort auch schon da: Ein Trümmerstück einer Station war von den Schilden abgelenkt worden. Joon stutze. Ein Trümmerstück einer Raumstation? Wo zur Hölle befand er sich? Er rief die Sternenkarte auf und erhielt die Antwort: Trantor. Was zur Hölle tat er in Trantor? Er hatte doch seinen Autopiloten so programmiert, dass er diesen Sektor um jeden Preis meiden sollte. Aber nein, nun befand er sich doch hier. Zudem noch auf der legendären Route 99. Der Route der Toten.

Trantor war beim ersten Angriff der Kha’ak vor einem Jazura vollkommen zerstört worden. Noch immer trieben die Trümmer und Wracks von Stationen und Raumschiffen allein im Sektor umher. Seit dem Angriff der Kha’ak hatte man nicht mehr viel mit dem Sektor zu tun. Es war ein toter Sektor, den man nur durchquerte, wenn es auch wirklich sein musste. Wenn die Kha’ak hier einen Stützpunkt errichtet hätten, dann hätten sie eine gute Ausgangsposition gehabt, um gegen die Argon Föderation vorzugehen. Warum sie dies nicht taten, war ein Rätsel. Ein Rätsel, dass man gerne gelöst hätte, wenn man nicht so sehr damit beschäftigt gewesen wäre die Wirtschaft wieder auf Vordermann zu bringen. Natürlich hatte es einige Bemühungen gegeben Trantor frei von den Trümmern zu kriegen und neue Stationen zu errichten, doch die erhöhte Aktivität der Piraten und Guerillaangriffe der Kha’ak ließen den Sektor in einem ungünstigen Licht erscheinen, in das nicht viele investieren wollten.
Zudem häuften sich die Gerüchte, dass die Route 99 von Geistern heimgesucht wurde. Was für ein Schwachsinn! Geister, pah! Wohl zuviel Raumsprit getrunken! Joon glaubte zwar an übersinnliche Wesen, doch in diesen Fällen vermutete er eher, dass Schildreflexionen der Wahrnehmung einen Streich gespielt hatten.

Schlagartig war sämtliche Müdigkeit wie weggeblasen und auch seine Magen-Darm Probleme waren nicht mehr vorrangig präsent. Die Schilde liefen auf Volllast, um die auftreffenden Trümmerstücke abzuwehren. Auch Joon tat sein Bestes um den Trümmern mit mehr oder minder nicht gerade grazilen Manövern auszuweichen. Jetzt wünschte sich Joon, er hätte eine künstliche Intelligenz an Bord, die für ihn das Partikelbeschleuniger-Geschütz bedienen würde, um anfliegende Trümmer zu zerstören. Doch was halfen schon Wünsche, wenn sie nicht in Erfüllung gingen? Joon hätte selber in die Geschützkanzel steigen können und auf die anfliegenden Trümmer schießen können, doch er vertraute dem Autopilot keine weitere Millisezura. Wahrscheinlich würde ihn das Scheißteil genau in eines der riesigen Schiffs- oder Stationswracks fliegen. Doch darüber musste sich Joon keine Gedanken mehr machen. So schnell und stark wie der Trümmerregen angefangen hatte, war er auch wieder vorüber.
Dafür stand jetzt schon das nächste Problem vor der Schleuse. Piraten! Wahrscheinlich waren sie durch die Energieausbrüche der Schilde auf die Aoi Sora Umi aufmerksam geworden. Drei Falken waren es an der Zahl, die jetzt Kurs auf die ASU genommen hatten. Nebeneinander herfliegend kamen die Jäger frontal auf den Frachter zu und scannten ihn. Da der Frachtraum vor wenigen Stazuras gelöscht worden war, hoffte Joon, dass die Piraten das Interesse verlieren würden. Doch da hatte er sich leider getäuscht.

„Pahihlahohtha! Dahuh uhebahehrahgahehbahehnah Ssschehhahihfehfeh ohdahehrah Sspahlahihtha ssschehhahihehsshehnah.“
*Pilot! Du übergeben Schiff oder Split schießen.*


Nanu, was war denn das? Joon hatte überhaupt nicht verstanden was der Split da gesagt hatte. Anscheinend war dieser der Handelssprache nicht mächtig. Auch wenn Joon nicht wusste, was der Split von ihm wollte, so hatte er dennoch eine Ahnung und deswegen floh er mit Volllast zum Nordtor, dass weniger als eine halbe Stazura entfernt war. Eine Ewigkeit.

„Schiochhachhajah, abaiechha ichihu vuhechhaschirschiehue uieini schipichahirschi.“
*Sorry, aber ich versteh kein split.*


Die ersten Schüsse prasselten bereits auf die Schilde der Aoi Sora Umi ein. Es war ein Mix aus Plasmageschossen und Pulsstrahlen. Obwohl der Merkus glücklicherweise um gute 10 m/s² schneller war als die drei Falken, wurden die Schilde platzen und der Rumpf bersten, bevor Joon die ASU aus der Schussreichweite geflogen hatte. Den Autopiloten wieder eingeschaltet und als Ziel die Siliziummine Sandhauch in Antigone Memorial eingestellt, hoffte Joon, dass der dumme Autopilot wenigstens gerade aus fliegen würde. Er selbst begab sich ins Heck des Frachters und bemannte den Geschützturm. Mehrere Kugeln beschleunigter Partikel rasten auf eines der verfolgenden Schiffe zu und ließen dessen Schilde schnell sinken. Doch auch die eigene Energie der Waffen wurde zusehends weniger. Joon konnte dagegen nichts machen. Die Energie der Schilde konnte er nicht in die Waffen umleiten, da er sonst schutzlos gewesen wäre. Auch konnte er vom Antrieb keine Energie abzapfen, da er sonst langsamer als die Verfolger werden würde und somit ausgespielt hatte. Ohne das Joon eine erneute Feuersalve losgelassen hatte, explodierte der anvisierte Falke. Die Druckwelle schüttelte die ASU etwas durch, aber es gab keine Beschädigungen. Wieder ins Cockpit hechtend hoffte Joon, dass sich nach Trantor eine Wachpatrouille verirrt hatte, aber dem war leider nicht so. Es gab einen weiteren Trümmerregen und der angeschlagene Falke hatte ein Fragment direkt abbekommen.
Natürlich! Das war der Probleme Lösung! Joon musste einfach nur seinen Merkur in eines der Schiffs- oder Stationswracks manövrieren, dann war er sicher. Die Wracks hatten kein Gravitationsfeld mehr und zogen so auch keine Trümmer an. Im Gegensatz dazu boten sie gute Versteckmöglichkeiten vor den Piraten. Den Autopiloten ausschaltend nahm Joon mit der ASU Kurs auf ein Stationswrack. Was das mal für eine Station war, konnte Joon nicht erkennen, aber dies war ihm auch egal. Das Wichtigste war jetzt in die Skelettkonstruktion reinzufliegen und zu hoffen, dass die beiden übrigen Piratenjäger nicht folgen würden. Dazu leitete Joon die Energie des Partikelbeschleunigergeschützes auf den Antrieb und die Schilde um. Das Schwere an der Sache war, dass die ASU ein Frachter war und damit nicht so manövrierfähig wie ein Jäger war. Erschwerend kam natürlich hinzu, dass die Stationswracks eine Eigenrotation besaßen. Aber zum Glück war diese nur geringfügig. Mit den Landeklammern setzte Joon die ASU auf einer Zentralverstrebung auf, die noch stabil genug war die Last, die der Frachter darstellte, auszuhalten. Dann schaltete er alle Energie, bis auf die Lebenserhaltung und die Sensoren, ab. Joon wusste, dass die Hintergrundstrahlung ihn in ein paar Stazuras töten würde. Aber er hoffte, dass die Piraten nicht so lange nach ihm suchen würden.

Im Dunkeln sitzend beobachtete Joon wie die Sterne entgegen der Rotationsrichtung des Wracks auf der einen Seite einer Bruchstelle auftauchten und bei der anderen Seite wieder hinter geschmolzenem Metall verschwanden. In einem zen-mäßigen Zustand versetzt bekam Joon nicht mit, dass die beiden Piratenschiffe das Feuer auf die Station eröffnet hatten. Erst, als die ersten Trümmer auf die Außenhülle der Aoi Sora Umi fielen und ein gespenstisches Scheppern im ganzen Schiff widerhallte, wurde Joon aus seiner Trance gerissen. Per Knopfdruck aktivierte er wieder die Energiezufuhr zu den Schilden und dem Antrieb. Vorsichtig, aber dennoch so schnell wie möglich, flog er die ASU aus dem zusammenbrechendem Wrack der Raumstation. Doch noch bevor sich Joon neu orientieren konnte, wo seine Feinde waren, hatte er auch schon ein neues Problem. Es war mehrere hundert Meter lang, bestand aus blaugrüner Energie und fletschte mit seinen Zähnen.
Ein Raumdrache.

„Ichihu baiini rschiorschi. Ichihu baiini schiovuhuaschi vuhoni rschiorschi.“
*Ich bin tot. Ich bin sowas von tot.*


Obwohl es noch ein Baby Raumdrache war und somit nur eine Länge von ungefähr 700 Metern hatte, war Joon alles andere als froh darüber. Unter Volllast versuchte er dem durch das Piratenfeuer aufgeschreckte Wesen zu entkommen. Vorerst schien der Drache kein Interesse an dem Frachter zu haben, was Joon nur allzu sehr begrüßte. Der Drache hatte es auf die beiden Piratenfalken abgesehen, die ihr Feuer jetzt auf eben diesen konzentrierten. Der mächtige lang gestreckte Körper des Raumdrachen leuchtete blau unter den Energien, die in seinem Körper entstanden und sich als geladener Nebel um ihn legte. Zu seinem Kopf hin verfärbten sich die Energie und der Nebel in grün. Der Beschuss der Piraten machte den Drachen aggressiv und an einigen Stellen schien er Wunden zu haben, die sich so äußerten, dass er an manchen Bereichen seines Körpers rotbräunliche Verfärbungen aufwies. Joon musste ein Ausweichmanöver fliegen, als der Schweif des Drachen ihn zu treffen drohte. Die Aoi Sora Umi war nicht wendig genug, so wurde sie von dem Schweif leicht gestreift. Doch dies reicht bereits aus, um die Schilde zusammenbrechen zu lassen und eine Rückkopplungswelle zu erzeugen, die die Schildgeneratoren explodieren ließ. Zu allem Unglück bohrte sich auch noch ein herumtreibendes Trümmerstück quer durch den Leib der ASU und traf kappte die Hauptenergieleitung. In seinem toten Frachter gefangen konnte Joon bloß noch mehr beobachten, wie der Raumdrache den beiden Piratenfalken folgte und seine beiden mehrere dutzend Meter langen Schnurrbarttentakel beide Schiffe zugleich auslöschte. Mizuras vergingen und der Raumdrache bewegte sich nicht von der Stelle. Aß er etwa die Raumschiffe? Joon konnte es nicht sagen. Von diesen Wesen war noch weniger bekannt als von den Raumfliegen. Verzweifelt dachte er darüber nach, wie er seinem Schicksal entrinnen konnte. Aber ihm fiel nichts ein. Das Schiff war so gut wie tot und trieb manövrierunfähig im Weltraum. Darüber nachdenkend wie er sich irgendwie anderen Schiffen bemerkbar machen oder einen Notruf aussenden konnte, bemerkte er aus den Augenwinkeln, dass sich der Raumdrache regte. Er folg auf die ASU zu und damit kam auch Joons Tod auf ihn zu. Wer hätte gedacht, dass es so enden würde?

„Uhchahrschichhaabaiojah! Jaheahu!“
*Ultraboy! Yeah!*


Joon hatte sich an einen seiner Holocomix aus seiner Kindheit erinnert. Ultraboy. Der junge Argone, der die Föderation vor den bösen Aliens rettete. Es war abgedroschen. Es war veraltet. Es rettete ihm das Leben.
Joon hatte sich durch den Frachtraum gekämpft, der zunehmends an Atmosphäre verlor und es geschafft den Maschinenraum zu erreichen. Dort überbrückte er die Leitungen des Ionenantriebs über den Energieausstoß zur Geschützkanzel. Joon hatte eine Verzweiflungstat vor. Er wollte die Ionen, die normalerweise im Antrieb für die Fortbewegung genutzt wurden, in die Partikelbeschleunigerkanone umleiten, um so auf den Raumdrachen schießen zu können. Es war fraglich, ob das wirklich funktionieren würde. Vielleicht würde es, vielleicht würde der Versuch aber auch die Aoi Sora Umi in Stücke reißen. Das würde Joon gleich erfahren, denn der Raumdrache war auf dem Weg zu ihm. Es war nicht schwer auf das Tier zu zielen. Treffen musste man aber können. Joon zielte sorgfältig, vielleicht blieb ihm nicht mehr als ein Schuss. Als der grün glühende Kopf des Raumdrachens direkt vor seinem Fadenkreuz war, drückte Joon ab. Mehrere weißblaue Energiekugeln, die aus unzählbar vielen Ionenpartikeln bestanden rasten auf den Kopf des Raumdrachen zu, schlugen ein und zerfetzten ihn.

Joon war gerettet. Jetzt stand aber ein neues Problem an. Wie sollte er gerettet werden? Die Luft reichte noch für ein paar Tazuras. Aber das Problem bestand darin, dass Joon keinen Zugriff mehr auf Nahrungsmittel hatte. Denn diese befanden sich im Wohnbereich am Bug des Frachters und ausgerechnet zwischen ihm und dem Essen lag der luftleere Frachtraum. Dummerweise waren die Schutzanzüge im Cockpit des Frachters untergebracht worden und der einzige im Maschinenraum war ebenfalls unerreichbar, da der Maschinenraum durch Strahlung aus dem Ionenantrieb kontaminiert worden war. Würde Joon den Maschinenraum betreten, wurde er geröstet werden. Tolle Aussichten. Er hätte sich doch lieber von dem Raumdrachen töten lassen sollen. Das ging schneller als elendig zu verhungern und zu verdursten. Noch besser: Er hätte gleich sein Schiff den Piraten übergeben können. Dann wäre er zwar als Sklave in einer Piratenstation gelandet, aber wenigstens wäre er dann noch am Leben. Aber was sollte es, sich jetzt noch Gedanken um ‚Was wäre, wenn ...?’ zu machen? Stattdessen sah Joon dabei zu, wie der Körper des Raumdrachens langsam kristallisierte.