Kapitel XIV – Die Geisterstation

Es war bereits eine Wozura vergangen, seit Chi von ihrer Schiffswrack-Mission zurückgekehrt war. Seitdem war sie von der Zuzaimei Incorporated, kurz Z.Inc. (bei den Argonen scherzhafter Weise auch ‚Zink’ genannt), bis auf weiteres freigestellt worden. Ihre freie Zeit hatte Chi damit verbracht den erweiterten Komplex in Antigone Memorial abzugehen. Er war groß. Neben Silizium- und Erzminen waren nun auch Kristallfabriken und Sonnenkraftwerke dem Komplex hinzugefügt worden. Die Z.Inc. wuchs schnell. Bereits ein Jazura nach dessen Gründung umfasste die Firma mehrere Fabriken in einem Komplex zusammengefasst, der einen beträchtlichen Umsatz abwarf. Doch darüber machte sich Chi nicht wirklich viele Gedanken. Ihre Gedanken galten etwas anderem, jemand anderem.
Ihr Name war Arin Phoso und diese Frau, eine Argonin, hatte ihr vor kurzem einen Heiratsantrag gemacht.
Es war nichts außergewöhnliches, wenn zwei verschiedene Spezies Interesse aneinander zeigten. Doch eine Verbindung war bis zur heutigen Zeit eine Seltenheit, die man nicht so einfach eingehen konnte. Chi dachte nicht so sehr an die bürokratischen Formalitäten, diese konnten sicherlich bewältigt werden. Nein, sie dachte eher an die Leute, die sie kannten und mit denen sie zusammenarbeiteten. Wie würden sich diese Leute ihnen gegenüber verhalten, wenn sie von dieser Verbindung erfuhren?

Chi kam nicht mehr dazu ihre Gedanken mit ihrer Lebensgefährtin zu besprechen, denn sie wurde zu einem Einsatz gerufen. Priorität: Grau. Level: 8. Dies hieß: Geheim und gefährlich.

Die Z.Inc. hatte von der argonischen Regierung einen besonderen Auftrag erteilt bekommen. In einer ihrer medizinischen Forschungseinrichtungen kam es zu einem Unfall. Genauere Informationen waren streng vertraulich und wurden nur den Mitglieder der Einsatztruppe mitgeteilt, die zu dieser Mission aufbrechen sollten. Unter ihnen Chi t’Nst.

Die Forschungsstation war als Komplex getarnt, der weiter außerhalb einer jeden Ekliptik lag. Ihr Ziel war ein unerforschter Sektor, der zwischen den argonischen Sektoren M148 und Nathans Reise lag. Für die Reise in das weit entfernte östliche Gebiet der Argonen, wurde von diesen eine Korvette vom Typ Zentaur mit Sprungantrieb bereitgestellt.
Auf die Frage hin, wieso die argonische Regierung nicht selber nach dem Rechten schaut, wurde darauf verwiesen, dass ihre Kräfte derzeit an anderen Orten gebunden waren. Was nach einer äußerst fadenscheinigen Ausrede klang und wahrscheinlich auch war. Zudem stellte sich die Frage, warum eine medizinische Forschungseinrichtung in einem unerforschten Sektor errichtet wurde, noch dazu weit außerhalb jeder Ekliptik. Aber dazu schwiegen sich die Auftraggeber aus.

Die Wirbel aus weißblauer Energie des Sprungtunnels eines Sprungantriebs unterschieden sich für Chi t’Nst in keinster Weise von jenen, die sich zwischen zwei Sprungtoren aufbauten. Der schmale, etwas ovalförmige Zentaur, der Chi irgendwie an eine gequetschte argonische Zigarre erinnerte, brauchte nur wenige Mizuras um die Strecke zwischen den Sektoren Antigone Memorial und dem unerforschten Sektor, westlich von Nathans Reise, zu überbrücken. Eine Reise ohne Sprungantrieb hätte mit einem konventionellen Antrieb über die normalen Routen wohl mehrere Mazuras beansprucht.

Der Zentaur brauchte vom Osttor aus, das nach Nathans Reise führte, über vier Stazuras um überhaupt in die Scannerreichweite der Forschungsstation zu gelangen. Ihr Abbild war auf allen Monitoren der Korvette abrufbar und ließ erkennen, dass sich diese Station autark versorgen konnte. Vom diskusförmigen Kontrollzentrum aus, das auf einem Asteroiden verankert war, breitete sich auf der einen Seite ein Flügel aus, der von Agrarzentren bekannt war. Wie eine Art Heiligenschein thronte über dem Kontrollzentrum ein Solarpanel, dass genau auf eine weit entfernte Sonne ausgerichtet war. Dieser abstrakten Konstruktion war ein zweiter ‚Flügel’, dem anderen entgegengesetzt, angebracht worden. Dies schien auch der Hauptforschungsbereich zu sein, während alle anderen Anbauten nur zur Versorgung zu dienen schienen.

Die Sicherheit bei dieser Mission hatte oberste Priorität. So hatte der Zentaur wieder abgedockt, als die Einsatzgruppe zur Forschungsstation übergesetzt hatte und kreuzte nun vor der Station rum. Auch die Einsatzgruppe hatte ein Bedürfnis an Sicherheit gehabt. So trug jedes Mitglied einen Isolationsanzug, der (durch einen integrierten Schild) weder Strahlung noch (durch spezielle Verbundstoffe) Mikroorganismen zum Träger durchließ. Bewaffnet mit Impulsstrahlpistolen, Partikelschnellfeuergewehren und Plasmagranaten schien dieses Einsatzteam eher auf eine militärische Operation ausgelegt und nicht auf eine Erkundungs- und Rettungsmission geschickt worden zu sein.

Es war düster im Zugangsstollen. Es brannten nur wenige Lichter und die, die brannten, taten dies nicht kontinuierlich. Sie flackerten und pulsierten in den unterschiedlichsten Rhythmen. Was war hier nur geschehen?

„Was ist mit der Energieversorgung los?“ Eine berechtigte Frage.
„Die Energieversorgung macht mir kein großes Kopfzerbrechen. Ich frage mich eher was mit den Wissenschaftlern hier passiert ist.“
„Wieso?“
„Ich erhalte nur ein Lebenszeichen.“
„Nur eines?“
„Hai. Allerdings nicht sehr stark.“
„Aber hier arbeiteten mindestens zwei Dutzend Wissenschaftler ...“

Die Gruppe bewegte sich langsam durch die Stollen, deren flackernde Beleuchtung die Schatten an den Wänden zu unheimlichen Leben erweckten.

„Ich wusste es! Sie haben hier bestimmt mit etwas Gefährlichem rumexperimentiert und sind alle draufgegangen!“
„Jetzt werd nicht hysterisch! Vielleicht ist ihnen auch die Flucht von der Station gelungen. Ich hab bis jetzt noch keine Leiche gesehen.“
„Und was ist mit der Anzeige des verbliebenen Lebewesens?“

Ratloses Schweigen.

Die Außenlautsprecher übertrugen das Knirschen von Asteroidengestein unter ihren Fußsolen in ihre Helme und ließ so manch hartgesottenen Veteran frösteln. Mit den Partikelschnellfeuergewehren, kurz PSGs, im Anschlag arbeitete sich die Gruppe langsam und vorsichtig weiter. Doch auf ihrem Weg zum Kontrollzentrum passierte nichts. Rein gar nichts. Und das machte sie nervös. Eigentlich hätte der Computer der Station schon längst ihre Identität überprüfen oder sie umbringen müssen. Etwas stimmte hier nicht. Und das Gemurmel des nervösen Mannes von vorhin, der die ganze Zeit über nicht mit seinen Kommentaren zurückhalten konnte, tat das seine dazu um alle anderen der Gruppe ebenfalls nervös zu machen.

An der Gabelung zu den einzelnen Bereichen des Forschungszentrums tauchte das erste Problem auf. Eigentlich sollte die Truppe nun in das Kontrollzentrum eindringen, doch die Sicherheitsschotte waren aktiviert worden und konnten von dieser Seite aus nicht deaktiviert werden. Der Techniker der Gruppe hatte eine einfache Idee, wie man die Sicherheitsschotte deaktivieren konnte. Man müsste einfach nur zur Energieversorgung spazieren und dort eine energetische Rückkopplungsschleife im Sicherheitssystem auslösen. Also teilte sich die Gruppe auf. Während Chi und die meisten der Gruppe am Schott blieben, ging der Techniker mit einer Eskorte zum Solarpanel.

„Mir gefällt das immer weniger.“
„Jetzt halt endlich die Klappe.“
„Halt doch selber die Klappe.“
„Du verhältst die wie ein Weib.“
„Lieber weibisch und am Leben, als ruhig und tot.“
„Was soll schon passieren?“

Was sollte schon passieren? Über Funk meldete sich ein paar Mizuras später der Techniker wieder und meldete, dass man die ersten Leichen gefunden hatte. Sie waren grotesk entstellt. So, als hätte sie etwas aufgefressen. Diese Nachricht löste bei einem Mitglied der bereits nervösen Mannschaft einen hysterischen Anfall aus.

„Ich wusste es! Wir werden alle sterben!“

Wie konnte nur so jemand durch die psychologischen Tests kommen? Chi nahm ihre Impulsstrahlpistole, kurz ISP, zielte auf den Mann und drückte ab. Bewusstlos fiel er in sich zusammen. Zwei Männer nahmen ihn in ihre Mitte und trugen ihn durch das nun geöffnete Sicherheitsschott. Der Techniker hatte auch die Energieversorgung der Beleuchtung neu kalibriert, so dass nicht mehr das Licht flackerte. Chi befahl ihm und seiner Eskorte im Solarpanel zu bleiben, falls weitere Hindernisse auftauchen würden. Zudem sollten sie, mit den ihnen zur Verfügung stehenden Mitteln, die Leichen untersuchen.

Während die Untersuchung lief und Chi auf den Report wartete, rückte die Gruppe um sie weiter vor. Der Bewusstlose wurde wohl oder übel mitgeschleppt und bremste sie etwas aus. Nur wenige Mizuras nachdem sie das Kontrollhabitat betreten hatte, knackte es vernehmlich aus den Lautsprechern. Ein Monitor an der Wand flackerte und zeigte dann das Gesicht eines alten Argonen mit weißem, zerzausten Bart und wirr davon stehenden Haaren.

„Gehen sie!“
„Wer sind Sie?“
„GEHEN SIE!“
„Was ist hier passiert?“
„Sie gehen nicht?“
„Was wurde hier erforscht?“
„Also nein.“

Der Monitor erlosch und das weiße Licht der Umgebung verfärbte sich ins Rote. Ein kaum wahrnehmbarer grellgelber Strahl schoss aus einer Ecke auf sie zu und traf den Bewusstlosen Argonen in der Brust. Obwohl er einen Schutzanzug getragen hatte, klaffte nun ein riesiges Loch in seiner Brust. Blitzschnell reagierte ein Mann aus der Gruppe und nahm die Ecke unter Feuer, aus der der Schuss kam. Rauch versperrte für kurze Zeit ihre Sicht und niemand war sich sicher, ob das versteckte Geschütz vernichtet worden war. Aber da es keinen weiteren Schuss gab, war dem wohl doch der Fall.

„Sie sollten lieber gehen. Solange sie noch können.“
„Wir bleiben. Die Regierung ...“
„... hat keine Ahnung. Genauso wenig wie sie.“
„Dann helfen sie uns auf die Sprünge.“

Der alte Argone schüttelte den Kopf und gab sich geschlagen. Während seiner Erklärung kam es immer wieder zu Interferenzen.

„Hier wurden bis vor Kurzem einige Exemplare der Khaak gefangen gehalten und studiert. Wir haben mit ihnen Experimente gemacht. Wir sollten herausfinden wie ihr biologischer Aufbau ist und wie man sie effektiv bekämpfen kann. Unter anderem wurden hier psychische Verfahren angewendet um die Khaak von ihrem Schwarmdenken zu trennen. Auch haben wir biologische Waffen entwickelt, die für den Organismus der Khaak schädlich sind. Eigentlich hätte es nicht passieren dürfen ...“
Der alte Mann schien sich zu sammeln und deswegen unterbrach niemand ihn. Doch ein jeder hing in dieser Zeit seinen eigenen Gedanken nach.
„Die Testreihe mit den psionischen Waffen schlug fehl, doch die biologische Kriegsführung brachte rasch Erfolge. Einer unserer Mitarbeiter hatte bei der letzten Testreihe der psionischen Waffen die Idee diese mit den biologischen zu kombinieren. Daraus resultierte eine verheerende Mutation.“
Der Wissenschaftler im zerzausten Zustand schüttelte seinen Kopf und man konnte ihm ansehen wie sehr ihn die ganze Geschichte mitnahm.
„Durch die psionische Strahlung mutierte die Biowaffe, ein Virus der das Nervenzentrum angreift. Durch die Mutation starb der Test-Khaak nicht, so wie die anderen, sondern wurde wahnsinnig und zerstörte das Isolationslabor mit einer uns unbekannten Methode. Da die psionische Bestrahlung noch lief und nun auch die Beobachtungs- und Kontrollräume überflutete mutierte der Virus enorm schnell. Während der Khaak im Sauerstoff-Stickstoff-Gemisch unserer Atmosphäre verendete, passte sich der Virus an und sprang auf die Wissenschaftler über. Die Folge war Wahnsinn. Eine enorm hohe Paranoia und eine damit einhergehende nicht vorhandene Hemmschwelle zur Gewaltbereitschaft.“
Der Argone mit den fast toten Augen sah müde und erschöpft aus. Lange würde er diesem Druck nicht mehr standhalten.
„Der Virus verbreitete sich schlagartig. Das Luftfilterungssystem war mit der enormen Vermehrungsrate überfordert und gab schon wenige Mizuras nach der Kontamination den Geist auf. Das Kontrollzentrum hatte zum Glück eine eigenständige Umweltversorgung, doch zum Zeitpunkt der Katastrophe war ich der einzige, der sich hier aufhielt. Ich konnte gerade noch so die Verriegelungsprozeduren einleiten und darauf hoffen, dass sich alles legt. Doch dem war nicht so. Ich konnte auf den Kontrollbildschirmen verfolgen, wie sich alle gegenseitig umbrachten. Es war grausig.“
Der alte Mann schien fertig zu sein. Irgendwie umspielte ein leichtes Lächeln seinen Mund. Vielleicht, weil er sich alles von der Seele reden konnte und dies ihn von einer großen Last befreit hatte. Er tippte etwas außerhalb des Bildschirms rum und wandte sich dann wieder Chi und ihrer Gruppe zu.
„Sie sollten nun gehen. Ich habe die Selbstzerstörung der Station initiiert. Es werden nicht viele Trümmer übrig bleiben. Sollten sie bis nach draußen schaffen und zur argonischen Regierung kommen, dann richten sie ihnen aus, was hier passiert ist und sie sollen meine Familie kontaktieren.“

Als Chi ihren beiden Kameraden im Solarpanel bescheid geben wollte, kamen nur abgehakte Laute durch, Stöhnen und dann Schreie des Grauens.

„Was war das?“
„Die letzten Infizierten. Es tut mir leid. Ihre beiden Kollegen haben es nicht geschafft.“

Chi wandte sich halb ab, als sie die entscheidende Frage stellte:
„Wer sind sie?“
„Bren Tanna. Hausmeister.“

Mit Müh und Not konnte sich der klägliche Rest des Rettungsteams aus der Forschungsstation retten, bevor diese in einer gleißenden Explosion verging.

Nach diesem Abenteuer hatte Chi t’Nst einen Entschluss gefasst, den sie unter allen Umständen durchzuziehen gedachte. Sie würde Arin Phoso heiraten. Und wenn sie dafür jedes einzelne Lebewesen im ganzen Universum mit ihren eigenen Händen erwürgen müsste.